Aphasie verstehen und behandeln, Sprachlos auf einen Schlag
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Herr Prof. Jacob, warum ist das Thema Aphasie trotz der aktuellen Coronakrise wichtig? Haben wir aktuell nicht schon genug zu tun?
Die Krise hat demaskiert, dass auch mentales und psychisches Wohlbefinden ein drängendes Thema ist. Sie hat uns als Ärzteschaft aller Fachdisziplinen auch deshalb viele Sorgen bereitet, weil viele andere, weiterhin bestehende klinische Probleme bei den Patient*innen plötzlich nicht mehr im Fokus standen. Viele Kolleg*innen haben Patient*innen mit drängenden Erkrankungen wie Krebserkrankungen oder Herzinfarkten nicht mehr so oft gesehen. Zudem hat die Versorgung aus meiner Sicht in fast allen Bereichen gelitten, weil dadurch viele Klinikressourcen, insbesondere Personal, nicht so zur Verfügung standen wie sonst. Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass Störungen des Immunsystems durch Infektionskrankheiten wie Covid-19 auch einen negativen Einfluss auf das Gefäßsystem und die Häufigkeit von Schlaganfällen haben können.
Warum interessieren Sie sich speziell für die Aphasie?
Für mich steht die drängende Notwendigkeit im Fokus, nicht mehr nur wie bisher vor allem auf Bewegungsprobleme zu schauen. Auch Hirnleistungsstörungen – Probleme mit dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, der Sprache – beeinträchtigen Patient*innen nach einem Schlaganfall unglaublich stark in ihrer Lebensqualität und im Alltag. Laut Befragungen sind sie für die Meisten genauso relevant wie motorische Störungen. Als medizinisches System haben wir aber, wenn wir ehrlich sind, in diesem Bereich nicht viel zu bieten. Es gibt keine pharmakologischen Mittel. Das liegt vor allem daran, dass wir viele Hirnfunktionen nicht wirklich verstehen. Wir müssten viel detaillierter nachschauen und unsere Messmethoden verbessern, um neue Behandlungsformen zu entwickeln und so auch Aphasiepatient*innen mehr klinische Optionen zu bieten.
Welche Behandlungsformen gibt es aktuell bei Aphasie?
In leitlinienbasierten Studien und Handreichungen zur Sprachtherapie werden derzeit vor allem Logopädie und häufiges Üben empfohlen. Doch in der Realität ist es nicht einfach, eine professionelle logopädische Therapie in der nötigen Frequenz durchzuführen. Aktuell haben wir das Infrastrukturproblem, dass viele Patient*innen diese Sitzungen nicht so häufig bekommen, wie sie sie bräuchten – nämlich mehrfach pro Woche über viele Stunden hinweg, um damit nicht nur ein rudimentäres Sprachvermögen zu erhalten, sondern es auch zu verbessern. Das Problem betrifft viele Menschen: Pro Jahr werden in Deutschland etwa 250.000 Schlaganfälle diagnostiziert. Eine Aphasie ist danach die häufigste Teilleistungsstörung im Gehirn. Typischerweise haben 20 bis 30 Prozent der Betroffenen noch ein Jahr später damit zu kämpfen. Das Problem betrifft alle linguistischen Ebenen: Lautstruktur, Wortfindung und Grammatik.
Gibt es noch andere Therapieoptionen außer der Logopädie?
Seit ungefähr zehn Jahren mehren sich die Hinweise, dass man über eine konservative, nicht invasive apparative Therapie direkter mit Hirnfunktionen interagieren kann – zum Beispiel über eine transkranielle Magnetstimulation oder elektrische Stimulation. Durch die Anregung großer Bereiche von Außen wird die Sprache flüssiger und die Patient*innen tun sich mit der Kommunikation leichter. Noch ist aber nicht klar, ob der Effekt auf Dauer anhält, bzw. ob man die Therapie dazu dauerhaft durchführen müsste, und wie relevant das für den Alltag des Patienten ist. Und der Effekt ist nicht sehr spezifisch, weil die Behandlung örtlich nicht gut begrenzt werden kann. Wer eine schwere Aphasie hat, wird dadurch eher keinen Quantensprung im Alltag machen. Hinzu kommt, dass die von außen angebrachten Apparate und Elektroden nicht wirklich portabel sind. Es gibt zwar Entwicklungen, Apparate zur transkraniellen Stimulation zu miniaturisieren. Aber auch dann muss man sie mit sich herumschleppen und die Apparatur ist von Außen gut sichtbar.
Was sollte sich ändern?
Um besser behandeln zu können, brauchen wir ein tieferes Verständnis der pathologischen, fehlgeleiteten Prozesse, wie uns das in den letzten Jahren bei verschiedenen Krebstherapien gelungen ist, z.B. beim Melanom. Wir wissen zwar schon länger, welche Hirnareale welche Funktion haben und können diese über EEG-Studien, Kernspinstudien und Studien zum Verhalten nach einer Läsion kartieren (Mapping). Doch wir verstehen immer noch nicht, welche Funktion die einzelnen Nervenzellen und ihre Netzwerke in diesen Hirnarealen übernehmen. Aktuell haben wir nur eine Sicht aus der Makroperspektive und schauen sozusagen wie mit einem Fernrohr auf das Geschehen. Bei an Aphasie Erkrankten kennen wir auch die Rolle anderer Hirnareale noch nicht, die dem untergegangenen Hirnareal entweder helfen oder aber auch die Sprache verschlechtern können, indem sie in der Interaktion ein Chaos verursachen.
Wie möchten Sie Aphasiker*innen helfen?
An der Technischen Universität München führen wir dazu die Expertise aus den medizinischen, den ingenieurwissenschaftlichen Fächern, Neuroinformatik und künstlicher Intelligenz sowie aus der Ethik und den Sozialwissenschaften zusammen. Da es hier um sehr vulnerable Menschen geht, müssen wir mit großer Vorsicht vorgehen. Und die Gesellschaft muss mitdiskutieren: Wie weit wollen wir gehen? Speziell für die Aphasie nach Schlaganfall möchten wir eine Studie durchführen, in der wir mit einem speziellen Implantat die Hirnleistungen nicht mehr mit dem Teleskop, sondern mit dem Mikroskop aufzeichnen, um im Bild zu bleiben. Dazu nutzen wir haarfeine Sonden auf einer Multikanalelektrode. Diese setzen wir in die für Sprachfunktionen relevanten Bereiche direkt auf die Hirnrinde. Die Sonden dringen etwa zwei Millimeter in die Hirnrinde ein. Dadurch können wir die elektrische Aktivität dort im Detail aufzeichnen. Wir hoffen so auf ein besseres Verständnis der ausgefallenen und noch erhaltenen Sprachfunktionen und möchten dies in einem zweiten Schritt in therapeutische Applikationen übersetzen. Andere, wenn auch größere, Neuroimplantate werden schon seit Jahren z.B. für die tiefe Hirnstimulation bei Parkinsonpatient*innen genutzt.
Was ist neu daran?
Zu wissenschaftlichen Zwecken haben wir die Implantate schon kurzzeitig genutzt. Nun möchten wir diese längere Zeit vor Ort belassen. Mit der Zeit wachsen die Haare darüber, sodass sie von Außen nicht mehr sichtbar sind. In den USA werden solche Implantate seit etwa zehn bis 15 Jahren vereinzelt bei jungen Patient*innen mit Querschnittslähmungen nach einer Rückenmarksläsion eingesetzt, damit diese eine Prothese ansteuern können. Auch bei ALS-Patient*innen, die sich schlecht äußern konnten, wurde das Implantat schon genutzt. Neu ist das beabsichtigte Ziel, die über die Sonde aufgezeichnete Hirnaktivität dem Patienten widerzuspiegeln. Das Implantat selbst ist dabei nur ein „Beobachter“. Wir messen die Aktivität, die das Hirn selbst generiert und machen diese für die Patient*innen über ein sogenanntes Feedback-Verfahren sichtbar oder hörbar. Auch Feedback-Verfahren sind nichts Neues und es gibt viel Evidenz dafür, dass diese sinnvoll sind. Wer eigene Körperfunktionen wahrnimmt, kann diese mit etwas Übung regulieren. Gute Beispiele dafür sind Bluthochdruck, Schmerz und Stress.
Wie genau gehen Sie vor?
Die Patient*innen sollen im Verlauf mehrerer Monate lernen, sich auf bestimmte, für die Sprachstörung charakteristische elektrische Signale im Gehirn zu fokussieren. Wenn sie diese Signale kennen und verstehen, können sie sie aktiv trainieren und regulieren: Damit machen wir den Patienten andere, spezifischere Signale bewusst als bisher bei der traditionellen Behandlung. Es gibt sogar auf der Zellebene schon Evidenz dafür, dass das funktioniert. Elektrische Aktivität und menschliches Verhalten lassen sich nicht trennen. Und aus verschiedenen klinischen Anwendungen wissen wir, dass solche Biofeedback-Verfahren den Zustand von Patient*innen relevant verbessern können. Das Training läuft ähnlich ab wie eine logopädische Sitzung, hat aber zusätzlich noch das Feedback der eigenen Hirnaktivität. Und das ist viel einfacher nachzuvollziehen als wenn Therapeut*innen sagen: das war richtig oder auch falsch.
Wie können Patient*innen praktisch in die Studie eingeschlossen werden?
Wir möchten nicht mit natürlichen Erholungsprozessen interferieren. Daher können sie frühestens ein Jahr nach dem Schlaganfall eingeschlossen werden. Ein linksseitiger Schlaganfall ist dafür Voraussetzung, da in der Regel die linke Gehirnhemisphäre sprachdominant ist. Darüber hinaus stellen wir einen Subtyp der Aphasie in den Vordergrund – die motorische oder Broca-Aphasie. Diese betrifft oft jüngere Patient*innen mit einer spezifischen Störung im Frontallappen. Bei ihnen ist meist die Sprachproduktion sehr viel stärker gestört das Sprachverständnis. Sie wissen zwar, was sie sagen wollen, aber das Umsetzen in eine sprachliche Formulierung gelingt ihnen nicht richtig. Daher sprechen sie oft zwar noch einigermaßen verständlich, haben aber einen kurzen, abgehackten „Telegramm-Stil“.
Gibt es weitere Anforderungen an die Patient*innen?
Uns ist wichtig, dass die Patient*innen unsere Anweisungen sowie die Tragweite der Studie und alle potentiellen Risiken und Nebenwirkungen verstehen. Sie sollten keine weiteren schweren internistischen Begleiterkrankungen oder ein hohes Schlaganfall-Rezidivrisiko haben. Zusätzlich sollten sie bereit sein, mehrfach pro Woche zu uns zu kommen. Aktuell suchen wir im Rahmen dieser Grundlagenforschung nur zwei Patient*innen, die an der Entwicklung dieser neuen Behandlung mitarbeiten möchten. Wer interessiert ist, sollte aktiv dabei sein und keine Berührungsängste vor der Technik haben. Dann kann er oder sie auch von den vielen Übungen profitieren und es besteht Aussicht auf einen langfristigen, vom Implantat unabhängigen Effekt. Uns würde es sehr helfen, wenn Kolleg*innen Patient*innen, die in Frage kommen, einfach mal auf diese Möglichkeit ansprechen.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA Heft Nr. 5, Erscheinungsdatum 26.02.2021