Traumafolgestörungen, Gewalt gegen Männer und Jungen
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Frau Kramer, Herr Diemer, Sie bieten am Trauma Hilfe Zentrum ein eigenes Beratungs- und Stabilisierungsangebot für Männer an. Was kann ich mir darunter vorstellen?
Kramer: Wir sind Teil des Netzwerks „gewaltLOSwerden“(https://bayerngegen-gewalt.de) des bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales und richten uns vor allem an Männer, die aufgrund von häuslicher oder sexualisierter Gewalt von Traumafolgen betroffen sind. In Einzelgesprächen und Beratungen kümmern wir uns um die Betroffenen. Das Projekt wird aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales gefördert. Männer wurden als Zielgruppe in der Beratung lange vernachlässigt. Außer uns gibt es innerhalb des Netzwerks in München nur noch das schwule Kommunikationszentrum SUB zur Beratung bei akuter homophober Gewalt und das Münchner Informationszentrum für Männer (MIM) bei akuter häuslicher Gewalt. Wir helfen vor allem bei langfristigen Traumafolgestörungen.
Diemer: Unser Projekt „TRAUMAMANN“ ruht auf drei Säulen: der klassischen Beratung im Gespräch, der Körperarbeit und der Kunsttherapie. Viele Patienten mit Traumafolgestörungen leiden unter Somatisierungen, also körperlichen Erkrankungen, die klar einem Trauma zuzuordnen sind. Wir berücksichtigen nicht nur ihr Verhalten, sondern auch neurophysiologische und sensomotorische Effekte wie Schmerzen, Muskelspannungen, Entzündungen und immunsystemische Antworten des Körpers. Was hat diese Schleifen im System, im Körper, im Verhalten, im Selbstbild verursacht? Und wie können wir mit bestimmten Strategien einen neuen Blickwinkel erreichen? Unsere Kunsttherapeutin wiederum ist sehr erfahren bei der Bearbeitung von Traumata mit künstlerischen Mitteln. Dabei vermitteln wir den Männern stets, dass wir kein Ersatz für eine klassische Psychotherapie sind, sondern einen Ort darstellen, an dem sie außerhalb des therapeutischen Kontexts gesehen werden. Das entspannt viele zutiefst.
Wer kommt zu Ihnen, und wie viele Klienten betreuen Sie derzeit?
Kramer: Seit unserem Projektstart im letzten November / Dezember sind ca. 30 Männer im Alter von Mitte 20 bis Mitte 70 zu uns gekommen. Etwa ein Drittel davon hatte sexualisierte Gewalt erlebt, ein Drittel häusliche Gewalt und ein weiteres Drittel beides. Einer war „nur“ Zeuge, leidet aber durch diese Zeugenschaft unter Traumafolgen. Ein Drittel der Männer hatte einen Migrationshintergrund. Die meisten unserer Klienten haben schon viel Therapieerfahrung und sind sehr gut in der Lage, ihre Erfahrungen in Worte zu fassen. Viele berichten dabei leider, dass in ihren Therapien zunächst andere Themen behandelt und Sexualität und Gewalterfahrung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurden.
Diemer: Geschätzt bringen etwa 85 bis 90 Prozent unserer Klienten eine frühe Entwicklungs- oder Bindungstraumatisierung mit, weil sie schon als Kinder oder Jugendliche innerfamiliär oder in der Schule Gewalt oder sexuelle Gewalt erlebt haben. Viele unserer Klienten sind bereits 40 oder 50, wenn ihre Traumafolgestörung ausbricht. Sie leiden häufig unter Panikattacken oder Wiederholungen des erlebten Gewaltmusters in der Ehe oder Partnerschaft – unabhängig davon, ob sie in einer hetero- oder homosexuellen Verbindung leben. Wir gehen dann auf die Suche, was in der Vergangenheit passiert ist. Ehemalige Heimkinder behandeln wir bis jetzt noch nicht.
Wie gut „läuft“ das Projekt, und wie kommen die Männer zu Ihnen?
Diemer: Wir sind von seinem Erfolg sehr überrascht worden. Wir werden stark nachgefragt, weil wir neben dem Nürnberger Trauma Hilfe Zentrum bayernweit die Einzigen sind, die bei Langzeiteffekten von Traumata begleiten. Zudem beschreiten wir über die Vernetzung der drei Zugänge Wort – Körper – Kunst einen ganz neuen Weg. Die meisten unserer Klienten haben zwar ein mittleres bis hohes Bildungsniveau, einige bekleiden sogar Führungspositionen. Trotzdem kann es dauern, bis betroffene Männer sich an uns wenden, denn für viele ist das Thema sehr schambesetzt. Als Mann „hat man so etwas nicht“. Viele „funktionieren“ auch lange und brechen dann plötzlich zusammen.
Können Sie ein paar Fälle als Beispiele beschreiben?
Diemer: Unser ältester Klient wurde bei einer Vergewaltigung gezeugt. Seine Mutter hat ihre Aggression gegenüber dem Täter später an dem Kind ausgelassen. Schon sehr früh durchlief unser Klient mehrere Therapien. Bereits mit 18 Jahren litt er unter einem sehr untypischen, in Schüben verlaufenden Morbus Bechterew, mal im unteren Rücken, mal an anderen Stellen. Derzeit hat der Betroffene mit Anfang 70 wieder unglaublich starke Schmerzschübe und ist daher sehr frustriert. Der Körper reagiert auf ein Trauma in der Regel auf zwei Ebenen: durch Entzündungen und / oder durch das Immunsystem. Prof. Dr. Dr. Christian Schubert aus Innsbruck hat viel dazu geforscht, und wir orientieren uns stark an seiner Forschung.
Arbeiten Sie in Fällen wie diesem schon mit Münchner Ärzt*innen zusammen?
Diemer: Leider noch nicht genügend. Wir würden uns das aber sehr wünschen, damit diese auch mal einen Blick auf die verwendete Medikation werfen können. Erkrankungen durch Traumafolgestörungen wie etwa dieser Morbus Bechterew werden leider zu oft nur symptomatisch behandelt. Und Psychopharmaka etwa triggern das Traumasystem oft erneut an, wenn sie zum Beispiel zu einer Überberuhigung führen, die die Handlungsfähigkeit einschränkt und Ohnmachtsgefühle auslöst. Wir wünschen uns vor allem eine verstärkte Zusammenarbeit mit männlichen Fachärzten und Therapeuten, weil diese oft einen besseren Zugang zu den Betroffenen haben. Gleichzeitig möchten wir alle Ärzt*innen für dieses Thema sensibilisieren, weshalb wir auch Fort- und Weiterbildungen im Trauma Hilfe Zentrum München anbieten. Viele Betroffene haben ihr Trauma aus Scham in Sprechstunden noch nie erwähnt. Fachärzt*innen sollten bei ihren Diagnosen daher auch an eine mögliche Traumafolgestörung denken und nach Gewalterfahrungen fragen.
Können Sie einen weiteren Fall schildern?
Diemer: Ein anderer Patient kam mit Neurodermitis, Panikattacken, Schlafstörungen und Überforderungsgefühlen zu uns. Er berichtete uns, dass er bis in die Jugendzeit innerfamiliär missbraucht wurde. Beruflich war er zu dieser Zeit durch seinen Aufstieg zur Führungskraft mit Mitarbeiterverantwortung überfordert. Man muss wissen: Um sich zu schützen entwickeln viele Traumatisierte sehr feine Antennen für andere, was bei diesem Klienten die Arbeit mit seinem Team schwierig gemacht und zur Überforderung geführt hat. In seiner Begleitung ging es darum, diese Mechanismen der Überforderung zu verstehen und seine Schlafstörungen zu behandeln. Als früherer Ort des Missbrauchs war das Bett stark angstbesetzt. Heute kann er wieder gut schlafen und hat gelernt, seinen eigenen Raum wahrzunehmen und sich besser abzugrenzen.
Die Mehrzahl der von Gewalterfahrung Betroffen sind Frauen. Warum beschäftigen Sie sich mit der vergleichsweisen kleineren Gruppe der Männer?
Kramer: Richtig: Etwa 82 Prozent der betroffenen Menschen sind Frauen. Doch aufgrund der Frauenbewegung existiert in Deutschland bereits ein sehr differenziertes Hilfesystem. Zwar gibt es auch dort noch einige Baustellen, z.B. das deutsche Prostitutionsgesetz. Doch in der Öffentlichkeit sind betroffene Männer immer nur kurz Thema, etwa wenn es um die kirchlichen Missbrauchsskandale geht. Für viele ist bis heute nicht vorstellbar, dass auch erwachsene Männer häusliche Gewalt erfahren können. Uns wurde von einem Mann berichtet, der bei der Polizei eine Partnerschaftschaftsgewalt zur Anzeige brachte und dort zur Antwort bekam: „Dann schlagen Sie halt zurück“. Es gibt viele Vorurteile. Daher wollte das Ministerium explizit diese Zielgruppe in den Fokus nehmen.
Das Gesamtprojekt hat auch die Prävention von Gewalt zum Ziel...
Diemer: Auch Männer können vergewaltigt werden, und zwar nicht nur von anderen Männern, sondern auch von Frauen, z.B. ihren Müttern oder Partnerinnen. Uns ist wichtig, über diese Themen aufzuklären. Obwohl viele Stellen bei der Polizei für dieses Thema offen sind, wird bei Einsätzen zu häuslicher Gewalt meist automatisch der Mann als Täter ins Visier genommen. Unser zweites Ziel ist, zu verhindern, dass frühere Opfer später zu Tätern werden. Zwei unserer Klienten sind aus diesen Gründen zu uns gekommen. Ich finde, das war ein sehr mutiger und verantwortungsbewusster Schritt.
Wie groß sind die Heilungschancen bei Ihren Beratungen? Bei einem Morbus Bechterew stelle ich mir das schwierig vor...
Diemer: Die Krankheit können wir natürlich nicht beeinflussen, wohl aber den Umgang damit. Es geht dabei vor allem um Stressregulierung und Bindungsebenen: Sobald jemand das Gefühl hat, dass er willkommen ist, respektiert und geschätzt wird, erhöht sich der Erfolg unserer Arbeit. Der Umgang mit Schmerz wird dadurch oft für den Betroffenen einfacher. Bei Schlafstörungen haben wir eine sehr hohe Erfolgsrate. Viele haben eine begleitende Depressions-Diagnose, und auch damit arbeiten wir.
Viele Experten haben in der Coronakrise vor vermehrter, womöglich unerkannter, häuslicher und sexueller Gewalt gewarnt. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Diemer: Die Kollegen der Akutberatungsstellen können dazu sicher mehr sagen, doch auch wir haben gemerkt, dass das Kontaktverbot in der Krise alte Bindungsthemen getriggert hat: Niemanden mehr treffen zu dürfen und zu Hause bleiben zu müssen hat die Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen vielfach wieder verstärkt, obwohl wir versucht haben, über ein Krisentelefon gegenzusteuern.
Kramer: Die Situation nicht kontrollieren oder beeinflussen zu können, nicht zu wissen, wie es weitergeht und einen Dritten über das eigene Leben entscheiden lassen zu müssen, hat bei vielen Betroffenen zu einem Wiedererleben der traumatischen Situation geführt. Mich persönlich bewegt aber auch das Thema Kinderschutz sehr: Noch immer dürfen nicht alle Kinder in Kita, Krippe oder Schule. Gerade Kinder aus Risikofamilien werden nun nicht mehr gesehen. Wir alle sollten daher im eigenen Umfeld sehr wachsam sein.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler