Leitartikel

IT im Krankenhaus. Der lange Weg ins digitale Zeitalter

Spätestens ab Januar 2021 müssen alle Krankenkassen ihren Patienten eine digitale Gesundheitsakte anbieten, und schon jetzt ist die ärztliche Verschreibung von Apps für Patienten möglich – höchste Zeit, dass auch Praxen und Kliniken digital werden. Warum der Weg dorthin lang ist, schilderte PD Dr. Christoph Spinner, Oberarzt und „Chief Medical Information Officer“ am Klinikum rechts der Isar.
IT im Krankenhaus. Der lange Weg ins digitale Zeitalter
IT im Krankenhaus. Der lange Weg ins digitale Zeitalter

Foto: Shutterstock

Herr, Dr. Spinner, könnte mehr Digitalisierung in der Medizin zu einer besseren Bewältigung der Coronavirus-Krise beitragen ?

Betrachten Sie mal Südkorea: Das Land ist viel weiter digitalisiert. Dort können Sie nahezu 100prozentig nachvollziehen, wer wann wo war, oder nicht. Es werden Apps mit Geo-Lokalisationsdiensten benutzt, mit denen leicht feststellbar ist, ob man mit einem Infizierten zusammen gewesen ist. Wenn man sich in der Nähe eines gesicherten Falls aufgehalten hat, schlägt das Smartphone Alarm. Forscher und Kliniker können so viel über die Verbreitung des Virus lernen.

Ist das nicht zu viel Überwachung für einen demokratischen Staat?

Sicher, darüber muss man sprechen. In Deutschland würde es dafür wahrscheinlich keinen Konsens geben, aber natürlich erleichtert es die Suche nach Infizierten. Grundsätzlich kann man durch Digitalisierung außerdem wahrscheinlich eine schnellere Befundkommunikation erreichen. Dabei geht es allerdings immer auch um einen bestimmten Behandlungsprozess, der standardisiert, in eine einheitliche Terminologie gebracht und schließlich für die Technologie in eine Syntax „übersetzt“ werden muss.

Was meinen Sie damit?

Mediziner haben eine bestimmte Fachsprache, im technologischen Bereich als Semantik bezeichnet. Dazu zählen lateinische und deutsche Fachwörter. Für die Digitalisierung muss diese Semantik dann in Katalogsysteme übersetzt werden, die auch die Technik versteht. Hierzu gehören beispielsweise LOINC oder SNOMED-CT. In der Technologie arbeitet man darüber hinaus mit technischen Sprachen, die die sogenannte Syntax bilden. Semantik und Syntax gehören immer zusammen. Im Gesundheitsbereich stellt z.B. die Organisation HL7 internationale Standards für technische Sprachen im Gesundheitswesen zur Verfügung. Hierzu gehören beispielsweise HL7 FHIR oder CDA.

Warum ist das so wichtig?

Wenn ich einem Computer bestimmte Informationen vermitteln möchte, muss ich das über sogenannte Metadaten tun. Wir Menschen haben Erfahrungswissen, über das ein Computer nicht verfügt. Als Mediziner weiß ich zum Beispiel, dass eine luxatio humeri eine Schultergelenksluxation ist, weil ich über einen Lateinwortschatz verfüge. Dieses Erfahrungswissen muss ich dem Computer erst noch beibringen. Dafür brauche ich eine eigene semantische Sprache, für den medizinischen Inhalt, und eine Syntax, zum Beispiel HTML oder JSON, um den Inhalt auszudrücken.

Wie kann ich mir das genau vorstellen?

Nehmen Sie als Beispiel den Arztbrief. Er enthält immer bestimmte Elemente, darunter Diagnosen, Befunde und Medikamente. Wie genau der Arztbrief aber aussieht, kann derzeit jeder Arzt für sich festlegen. Wenn wir die Medizin jedoch künftig sinnvoll digitalisieren möchten, brauchen wir eine feste Standardisierung. Ohne sie werden wir die Software-Hersteller nicht dazu bringen können, technische Vorgaben einheitlich zwischen verschiedenen Systemen umzusetzen. Daran arbeitet die HL7 zusammen mit verschiedenen nationalen Fachgesellschaften. Die HL7 legt sozusagen Standards u.a. für die Kategorien des E-Arztbrief fest.

Welche Schritte sind für eine Digitalisierung nötig?

Wenn man ein Dokument standardisieren möchte, braucht man eine Kategorisierung für medizinische Daten. Diese findet sich in sogenannten Ontologie- oder Terminologiedatenbanken. Man kann sie mit Klassifikationen wie dem ICD-10-Katalog zur Abrechnung mit den Krankenkassen vergleichen. Der ICD-10 ist allerdings nicht genau genug. Nehmen Sie zum Beispiel die Lungenentzündung (ICD-Schlüssel J18). Im ICD-10 können Sie vielleicht noch den Erreger erfassen. Sie können aber nicht dokumentieren, welche Symptome die Erkrankung mit sich bringt und dass die Lungenentzündung radiologisch mit einem Röntgen-Infiltrat einhergeht. Daher bin ich sehr froh, dass die Bundesregierung beschlossen hat, ab 2021 das internationale Klassifikationssystem SNOMED-CT zu lizenzieren. SNO-MED-CT bezeichnet klinische Inhalte unabhängig von einer Ursprungssprache eindeutig und präzise und codiert auch die Symptome sowie z.B. das Infiltrat in der Lunge.

Ist man damit dann für die Digitalisierung gerüstet?

Nein, denn als Nächstes braucht man eine Software, die die eingegebene Information in die Semantik und Syntax technischer Systeme übersetzen kann. Das muss ein System im Hintergrund machen, während ich meine Informationen eingebe. Dieser „Terminologie-Server“ überträgt medizinische Begriffe standardisiert z.B. in einen E-Arztbrief oder standardisierten Befund. Was gehört typischerweise in einen E-Arztbrief in Deutschland? Wie drücke ich das aus und welches Format wähle ich? Die Abstimmungen dazu werden in einem sogenannten „technischen Implementierungsleitfaden“ in Abstimmung zwischen Medizinern und Informatikern festgelegt. Hierdurch soll der Datenaustausch zwischen verschiedenen Softwaresystemen ermöglicht werden, weil sich alle Softwarehersteller an die gleiche Konvention halten.

Warum diese ganzen technischen Komplikationen? Kann man nicht einfach eine Email mit Anhang schicken?

Emails können wir nicht nutzen, denn sie sind sozusagen Postkarten. Sie sind unverschlüsselt und jeder kann sie theoretisch erfassen und manipulieren. So wie früher jeder ein Faxgerät kaufen konnte, brauchen wir daher in Zukunft sozusagen ein digitales Postamt, einen Mehrfachstecker, mit dem wir die elektronische Gesundheitsakte von Patienten bestücken und mit den Kassen, den BGen und den Niedergelassenen über die dort vorhandenen verschiedenen Systeme hinweg sicher kommunizieren können.

Das Klinikum rechts der Isar veranstaltet im Mai einen Workshop zur Digitalisierung (s. Kasten). Warum ist der technische Prozess für Ärztinnen und Ärzte wichtig?

Ärzte müssen unbedingt den Hintergrund verstehen: Denn neben der Notwendigkeit einer Sprache (Syntax und Semantik) gehört zur Digitalisierung immer auch die Veränderung des medizinischen Dokumentationsprozesses. Syntax, Semantik und der Prozess sind untrennbar miteinander verbunden. Wir möchten, dass man eine einmal erfasste Information in ganz verschiedene Applikationen nur einmal eingeben muss. Heute verwenden Mediziner allein in Deutschland über 140 Arztpraxis-, Klinik- und Praxisinformationssysteme. Jedes davon mit einer eigenen Logik der Datenerfassung und Speicherung (Datenbank). Der Austausch zwischen diesen Systemen würde jedes Mal einen Übersetzer erfordern. Kein Wunder, dass hier viel schief geht. Die Nutzung einer gemeinsamen Syntax, Semantik und eines einheitlichen Prozesses wäre die Grundlage, damit alle diese Systeme leichter kommunizieren können. Schließlich wird der Patient auch nicht fünfmal die gleiche Geschichte erzählen wollen, wenn er in einem Kontext in mehreren Einrichtung behandelt wird.

Warum schaffen andere Länder wie die Schweiz die Digitalisierung schneller (s. Interview mit Prof. French in MÄA 05/2020)?

Die Struktur in der Schweiz oder in Österreich ist zentralisierter. In Deutschland haben wir eine sehr dezentrale und regionale Struktur und müssen daher erst einmal alle Stakeholder im Gesundheitswesen zusammenbringen. Österreich und die Schweiz haben für ihre Länder die Standards der International Healthcare Organization IHE beschlossen. Unser Abteilungsleiter der Informationstechnologie, Andreas Henkel, ist übrigens Vorsitzender dieser Organisation.

Was haben Sie persönlich und das Klinikum rechts der Isar mit diesem nationalen Prozess zu tun?

Wir am Klinikum rechts der Isar der TUM konsolidieren derzeit u.a. unsere Behandlungsprozesse und Datenmodelle zwischen den 26 Fachabteilungen. Dabei beginnen wir mit Entlassbriefen, Aufnahmedokumentation, OP-Dokumentation, die derzeit nicht mal in unserem Krankenhaus einheitlich sind. Darüber hinaus arbeite ich persönlich zusammen mit unserer Fachgesellschaft und dem Robert-Koch-Institut an der Standardisierung für den Bereich HIV.

Was würden Sie Menschen antworten, die sagen, dass so etwas nichts mit ihrer ärztlichen Kernkompetenz zu tun hat?

Nicht jeder muss sich damit beschäftigen. Aber wenn wir fachfremde Entscheidungsträger alleine über medizinische Prozesse entscheiden lassen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie eine schlechte Akzeptanz in der Praxis haben. Für die Gestaltung der Kernprozesse im Gesundheitswesen brauchen wir also die Prozessverantwortlichen! Daher veranstalten wir diesen Workshop: Wir müssen mehr Mediziner zu den technischen Hintergründen und Rahmenbedingungen qualifizieren

Was sind die Chancen der Digitalisierung für Ihr Krankenhaus?

Durch die Digitalisierung können wir irgendwann hoffentlich die Prozesse sehr viel effektiver und papierärmer gestalten. Sie werden auch transparenter. Das Hauptargument für mich ist aber, dass man dadurch die Patientenversorgung und -sicherheit verbessern kann. Wenn Ärzte die Medikamente per Hand verordnen und diese dezentral auf der Station bereitgestellt werden, liegt laut einer Studie aus Hamburg die Rate der Fehlmedikationen bei über 40 Prozent. Wenn die gleichen Ärzte die Medikation aber elektronisch verordnen, vorher schon elektronisch zu Arzneimittelinteraktionen beraten werden und ein Apotheker die Verordnung gegenprüft, bevor diese verblistert und auf der Station abgegeben wird, sinkt sie auf unter ein Prozent! Das ist ein starkes Argument.

Ein häufiges Gegenargument beim Thema Sicherheit ist der Datenschutz. Was entgegnen Sie?

Natürlich muss man den Datenschutz berücksichtigen. Entscheidend für mich ist das sogenannte kontextsensitive Consenting: Wenn jemand zu mir in die Sprechstunde für sexuelle Gesundheit kommt, möchte er vielleicht nicht, dass sein Hausarzt einen entsprechenden Brief erhält. Wenn er aber im Krankenhaus war, möchte er das womöglich schon. Im Rahmen der Aufklärung und des Besuchsanlasses muss man klären, welche Informationen übermittelt werden sollen, und welche nicht. Auch über die meisten Smartphone-Apps kann man heute ja in verschiedene Datenschutzoptionen einwilligen – oder eben nicht. So muss es auch im Gesundheitswesen sein. Zusätzlich brauchen wir mehr Geld und Kompetenz, um in die digitale Sicherheit zu investieren. Viele Universitäten und Kliniken wurden zuletzt vor allem deshalb angegriffen, weil ihre Vorbereitungen katastrophal waren und sie zu wenig Geld in die Hand nehmen konnten oder nicht über entsprechend qualifiziertes Personal verfügen können. Man muss allerdings auch sagen: in der dualen Klinikfinanzierung ist dieses Thema bis jetzt nicht ausreichend berücksichtigt. Gebäude werden gebaut und zu 100 Prozent finanziert, aber für die Softwarelizenzen stehen die Mittel weder von den Ländern noch aus dem DRG-System bereit. Und finanzielle Mittel sind für die Digitalisierung unerlässlich.