Leitartikel

Von der Schweiz nach Bayern. Schweizer Uhrwerk trifft deutsche Gründlichkeit

Viele deutsche Ärztinnen und Ärzte ziehen wegen besserer Arbeitsbedingungen und höherer Löhne in die Schweiz. Den umgekehrten Weg wählt fast niemand. Prof. Dr. Lars French, Direktor der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie der LMU und der München Klinik hat sich dazu aber entschlossen. Mit den MÄA sprach er über seine Erfahrungen.
Von der Schweiz nach Bayern. Schweizer Uhrwerk trifft deutsche Gründlichkeit
Von der Schweiz nach Bayern. Schweizer Uhrwerk trifft deutsche Gründlichkeit

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MÄA-Redaktion: Herr Prof. French, seit wann befinden Sie sich in München und was hat Sie dazu bewogen, nach München zu kommen?

Im November 2018 habe ich offiziell meine Aufgabe als Klinikdirektor in München übernommen. Ich war sehr zufrieden in Zürich, denn dort funktionierte alles nach 12 Jahren im Amt als Klinikdirektor wie eine Schweizer Uhr. Das Klinikum und die Uni in München sowie die München Klinik haben wirklich gezeigt, dass sie mich hier haben wollten: Sie haben immer weiter verhandelt und nie aufgegeben. Die Schweizer hingegen haben einmal ein Angebot gemacht und sich danach nicht mehr gekümmert, weil sie sich so sicher waren, dass kein Schweizer freiwillig die Schweiz verlässt. Die LMU bietet mit der TU und der ganzen Wissenschaft, die darum herum angesiedelt ist, ein außerordentliches Potential. Außerdem ist die Größe (Einzugsgebiet) hier eine andere als in der Schweiz. Das ist besonders für die Erforschung seltener Krankheiten interessant: Einer meiner Forschungsschwerpunkte sind schwere Arzneimittelreaktionen. Zudem hat diese Klinik unter Prof. Otto Braun-Falco und meinem Vorgänger die Dermatologie europaweit geprägt – durch Forschung, Klinik und die Interaktion mit anderen Fachgebieten, z.B. zu HIV und Haut. Zusätzlich habe ich auch hier gute Bedingungen und ein gutes Angebot bekommen.

Ich hätte es in der Schweiz sicher bequemer gehabt, aber das wollte ich nicht. Ich wollte aktiv sein und Neues entwickeln, und ich weiß einfach, wie gut die Forschung in Deutschland ist, durch die Exzellenzinitiative zum Beispiel. Auch habe ich hier einige Kollegen an den Universitäten Tübingen und Heidelberg, mit denen ich sehr gut zusammenarbeite. Es gibt hierzulande viele unterstützende Institutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Zusätzlich habe ich in Deutschland einen noch besseren Zugang zu EU-Forschungsstipendien.

Pilz: Wie beurteilen Sie den Wissenschaftsstandort München im internationalen Vergleich? Wir haben hier in Bayern ja mit Augsburg eine weitere medizinische Fakultät bekommen. Schwächen unsere vielen kleineren Fakultäten hierzulande nicht die Wissenschaft, etwa im Vergleich zu großen Fakultäten in den USA wie Harvard und Stanford?

Der Wissenschaftsstandort München stellt sich im internationalen Vergleich sehr gut dar. Mit Augsburg kooperieren wir auch, z.B. im Bereich der Bildgebung. Ein mögliches Risiko der zunehmenden Anzahl an Fakultäten ist, dass man das Gießkannenprinzip benutzt, statt die Besten zu fördern. In der Schweiz war das oft spürbar. Nicht selten bekamen dort von den großen Stipendien jede Uniklinik eines. In den USA hingegen erhalten mehrheitlich die Besten die Gelder. Ich hoffe, dass man bei der Geldvergabe daran denkt, dass Qualität und Kompetitivität immer die wichtigsten Parameter sein sollen. Häufig gehen gute Leute ja dorthin, wo andere gute Leute sind, so dass Synergien geschaffen werden. Es ist wichtig zu akzeptieren, dass manche Zentren einfach kompetitiver, attraktiver, und innovativer als andere sind und auch den Mut zu haben, im Vergleich mehr Geld dort zu investieren. Nur so können einige Zentren mit Cambridge, Oxford, Stanford oder Harvard konkurrieren.

MÄA-Redaktion: Welche Bilanz ziehen Sie nach über einem Jahr hier in München? Hat es sich gelohnt, hierher zu kommen?

Es war sehr hart. Ich kam von einer Klinik, die hinsichtlich ihrer Publikations- und ihrer wissenschaftlichen Innovationsleistung zu den besten in Europa gehört. Von einer Klinik, die wir so organisiert hatten, dass unsere Arbeit hoch qualitativ und rentabel war. Wir hatten eine kostendeckende Ambulanz, obwohl das sehr schwierig ist, und einen profitablen stationären Bereich. Wir waren ein Leuchtturm in der Schweiz und hatten auch viele internationale Patienten. Die Klinik hier in München hat aus historischer Sicht auch eine Leuchtturmfunktion, aber auf mehreren Ebenen läuft es noch nicht ganz so, wie ich mir das wünsche: Intern, auf der organisatorischen Ebene, ist noch nicht alles komplett standardisiert. Extern können wir unseren niedergelassenen Kollegen noch nicht ganz die Qualität der Dienstleistungen anbieten, die ich mir wünsche. Wissenschaftlich sind wir noch weit weg davon, was ich in Zürich hatte. Aber ich weiß: Das braucht Zeit. Man muss in den Nachwuchs investieren.

Gab es am Anfang bestimmte Herausforderungen?

Ja, es gab große Herausforderungen. Während der letzten Jahre sind leider viele Stellen eingespart worden, und viele gute Wissenschaftler haben die Klinik verlassen. Eine große Herausforderung ist der Gehaltsunterschied zwischen einer gut funktionierenden Praxis, selbstständig oder in Gemeinschaft, im Vergleich zu einer Arbeit als Oberarzt an einer Universitätsklinik. Sehr wünschenswert wäre eine passende Lohnstruktur, um gute Leute hier zu behalten oder zu gewinnen. Seit ich hier bin, wurde ein ambulanter OP geschlossen, weil ich dafür nicht genügend Pflegekräfte hatte. Auch meine Privatambulanz ist nur zu 70 Prozent ausgelastet, weil mir dort das nötige Personal fehlt. Wir haben lange Wartelisten. Doch ohne ausreichend Personal kann ich zur Zeit nicht mehr Termine anbieten.

Liegen die Unterschiede vor allem bei Ärzten und Pflegepersonal?

Nein, wir haben leider auch Probleme mit der Erreichbarkeit in der Klinik. Hier ist insgesamt aktuell die Personalsituation angespannter als am Unispital Zürich, sodass wir es zur Zeit nicht schaffen, alle Anfragen von Niedergelassenen oder Patienten zu beantworten. Diese hängen lange in der Warteschleife und legen dann irgendwann auf. Befunde können wir teilweise per Email übermitteln, aber ein Teil unserer Patienten kann leider nicht gut mit dem Computer oder mit Emails umgehen. Auch an der Digitalisierung fehlt es leider noch hinten und vorne: In Zürich war fast alles papierlos, und wir sind immer mit einem Laptop zur Visite gegangen. Ich konnte dann direkt fragen, wie der Blutzuckerwert aussieht, oder das Röntgenbild, und konnte die Befunde direkt am Patientenbett einsehen sowie Verordnungen digital eingeben. Hier gehen wir mit einer Papierkurve zur Visite, auf der ungenügend Platz für ärztliche Notizen vorhanden ist. Als Ärzte haben wir selten in „Echtzeit“ alle Laborwerte dabei. Eine digitale Akte streben wir an. Dies würde unsere Effizienz und Dienstleistung für Patienten verbessern.

Pilz: Ist das ein spezielles Problem, weil Sie hier ein Konstrukt zwischen städtischem und universitärem Träger haben?

Nein. Die LMU und die München Kliniken haben ähnliche Probleme in diesem Bereich. Als ich 2006 in Zürich ankam, gab es schon im ganzen Spital ein digitales Krankheitsinformationssystem. Auch in der Ambulanz hatten wir elektronische Vorlagen für Akten, Verordnungen, Briefe an die Versicherungen etc. und mussten nicht jedes Mal alles neu erstellen. Alles war sehr gut organisiert. Hier mussten wir erst eine neue Gruppe aufbauen, um eine Digitalisierung einzurichten, die mit allen Schnittstellen und Laboren kompatibel ist. Es wird daher sicher noch zwei oder drei Jahre dauern bis alles effizient funktioniert.

Pilz: Haben Sie keine Sicherheitsbedenken wegen Datenschutz, Hackerangriffen etc.?

Man braucht natürlich gute Firewalls. Derzeit kommunizieren wir mit anderen Ärzten entweder per Fax oder mit verschlüsselten Emails. Bezüglich der Sicherheit haben wir auch schon mit dem Datenschutzbeauftragten der LMU und der TU gesprochen und mit dem Leiter der Informatik hier. Man kann digitale Krankheitsinformationssysteme sehr sicher machen, und man kann sie auch auf ihre Sicherheit gegen Hackerangriffen etc. testen lassen. In der Schweiz haben wir zum Beispiel ein Startup mit dem Namen „Derma2go“ aufgebaut, das jetzt auch in Deutschland auf dem Markt ist. Es wird in der Schweiz von drei Unispitälern benutzt. Dazu haben wir uns mit seiner Sicherheit befasst und diese testen lassen. Natürlich kann Sicherheit nie hundertprozentig sein, aber aus meiner Sicht überwiegen letztlich bei professionellen digitalen Patientenakten die Vorteile das sehr geringe Sicherheitsrisiko.

MÄA-Redaktion: Hatten Sie hier denn auch positive Erfahrungen?

Ja, ich bin auf ein Team getroffen, das sehr motiviert war, neue Wege zu gehen. Hier gibt es viele junge Mediziner, die gute Ideen haben, Projekte aufbauen und Gas geben. Ich bin außerdem auf offene Ohren für Zusammenarbeit innerhalb Münchens gestoßen, zum Beispiel beim Leiter des Zentrums für Allergie und Umwelt der TU und des Helmholtz Zentrums (ZAUM). Auch mit der TU und verschiedenen anderen Unikliniken in Bayern haben wir einen regen Austausch. Den Austausch mit den Niedergelassenen auszubauen braucht etwas Zeit, aber innerhalb der Münchner Dermatologischen Gesellschaft haben wir einen guten Kontakt. München ist zudem eine wunderschöne Stadt. Die Patienten hier in Bayern sind sehr offen. Auch die Atmosphäre am Klinikum ist sehr kollegial, warm und angenehm. Und der Vorstand, der Dekan und der ärztliche Direktor der LMU sind wirklich phantastisch.

Hatten Sie so etwas wie einen Kulturschock, als sie hierher kamen?

Nein, denn München und Zürich sind nicht so unterschiedlich. Hier in Deutschland gibt es noch mehr Gesetze. Es wird mehr geprüft, und es gibt vielleicht ein bisschen weniger Vertrauen und Freiraum für den Klinikdirektor. Die Spitaldirektion in der Schweiz hat gesehen, dass ich jedes Jahr fünf Prozent Wachstum generieren konnte und hatte mir daher erlaubt, den Personalschlüssel jedes Jahr um einige Prozent zu überziehen. Wenn ich hier den Schlüssel nur um 0,01 Prozent überziehe, bekomme ich schon ein Schreiben, dass ich diese Person nicht anstellen darf.

Dr. Pilz: Wie sind die deutschen Studenten und die jungen Assistenten im Vergleich zur Schweiz?

Deutsche Studenten sind meiner Meinung nach reifer und mussten mehr kämpfen, um dorthin zu gelangen, wo sie sind. In der Schweiz dürfen PJler von Anfang an wie die Ärzte mitarbeiten, müssen also nicht Blut abnehmen o.ä. Wir hatten viele deutsche PJler in Zürich, die mehrheitlich wacher und ein Niveau über ihren Schweizer Kollegen waren. Wenn man sie gebeten hat, etwas zu einem Thema nachzulesen, haben sie einem am nächsten Tag darüber berichtet. Das Gleiche spüre ich hier auch: Die Assistenten sind fit, auch wenn sie frisch vom Studium kommen. Ich bin daher sehr zufrieden. Allerdings haben wir hier eine 40- bis 42 Stunden-Woche, gegenüber einer 50-Stunden-Woche in der Schweiz. Das macht schon einen Unterschied bei der Arbeitsleistung. Während in Zürich am Freitag Nachmittag um 17 Uhr noch alle da waren, gehen hier die meisten schon um 14 Uhr.

MÄA-Redaktion: Was würden Sie dem deutschen Gesundheitssystem empfehlen?

Wünschenswert wäre es, das Arbeitsumfeld so zu organisieren, dass sich Ärzte und Pfleger mehrheitlich auf ihre beruflichen Kernkompetenzen konzentrieren können. Auf technologischer Ebene sollte man sie entlasten und sie mehr durch Arzthelferinnen und Sekretärinnen unterstützen. Die fehlende Digitalisierung ist in dieser Hinsicht ein riesiges Problem. Besonders angebracht wäre es in Deutschland, die Pflege aufzuwerten. Ich finde es sehr schade, dass die Pflege hier z.B. nicht Blut abnimmt oder Leitungen legt. Eine Aufwertung des Pflegeberufs hätte auch den Vorteil, den Arbeitstag für Pflegefachkräfte zu bereichern. Sehr wahrscheinlich würde es die Pflegekräfte noch stärker motivieren. Allerdings sollte man sie dann auch besser dafür bezahlen. Aktuell gehen viele in die Schweiz, weil sie dort besser verdienen und ein größeres Arbeitsspektrum haben. Bei den Ärzten in den Spitälern wäre es wünschenswert, die Besoldung auf Stufe der Oberärzte zu verbessern, sodass der Unterschied zu den Ärzten in der Praxis niedriger wird. Auch wenn es danach ebenfalls noch einen Lohnunterschied zum niedergelassenen Arzt gibt, haben Klinikärzte so das Gefühl, ein korrektes Gehalt zu bekommen und am Puls der Innovation zu sein, weil sie z.B. mehr Freiheiten für Forschung und Lehre haben.

Pilz: Für viele deutsche Ärzte ist die Schweiz das Ziel aller Träume. Was halten Sie vom System der gesetzlich-privaten Krankenkassen in Deutschland und davon, dass praktisch jeder kostenfrei mit einer Fußpilzinfektion in eine Ambulanz einer Universitätsklinik gehen kann?

Der Zugang zu Ambulanzen der Uniklinika ist in Deutschland ähnlich wie in der Schweiz. In der Schweiz muss man als Patient aber neben dem Versicherungsbetrag etwas selbst für eine ärztliche Konsultation bezahlen. Dieser Betrag hält die Menschen aber nicht von einem Arzt- oder Ambulanzbesuch ab. Allerdings ist die zweigleisige Medizin in der Schweiz weniger spürbar als hier in Deutschland. Anders als in Deutschland, wo gesetzlich versicherte Patienten für Quartals-Pauschal-Beträge ambulant behandelt werden, wird in der Schweiz bei gesetzlich wie bei privat versicherten Patienten jeder Arztbesuch in Rechnung gestellt. Die Vergütung des Arzts pro ambulantem Besuch ist deswegen in der Schweiz um einiges höher. Dadurch wird verhindert, dass wie in Deutschland die Konsultationszeit pro Patient aus wirtschaftlichen Gründen unter das vernünftige Maß gedrängt wird. Nehmen Sie die chronische Hautkrankheit Neurodermitis, die etwa zwei Prozent der Bevölkerung betriff als Beispiel. Diese Patienten kann man nur gut und nachhaltig behandeln, wenn man Zeit hat, sie neben der Diagnosestellung und der aufwändigen Behandlung zu schulen, zu begleiten und zu kontrollieren. Diesen Aufwand, kann man sich fast nur hier bei privat versicherten Patienten leisten.

Wie sieht es in der Schweiz aus?

In der Schweiz haben wir ein Tarifsystem, bei dem gesetzlich und privat versicherte Patienten auf ambulanter Ebene gleichgestellt sind. Der gesetzlich Versicherte hat wie der privat Versicherte einen direkten Zugang zu einem Spezialisten oder Chefarzt/Privatambulanz, und die Kosten dafür werden im gleichen Umfang von der Krankenkasse abgedeckt. Eine normale dermatologische Konsultation ohne Eingriffe wird mit zwischen 70 und 110 Euro abgerechnet und ist damit korrekt bezahlt. In der Schweiz hat der privat Versicherte nur auf der stationären Ebene Vorteile, durch ein Einzelzimmer und die Möglichkeit, seinen Arzt oder Operateur zu wählen.