Stationsäquivalente Behandlung: Zu Hause versorgt wie im Krankenhaus
Foto: Shutterstock
Dr. Eva Ketisch, Frau Christine Ernst-Geyer, was ist das Besondere an der Stationsäquivalenten Behandlung?
Ernst-Geyer: Die Vorgabe der StäB ist, dass wir unsere Patienten an sieben Tagen in der Woche zuhause sehen und 24 Stunden, rund um die Uhr, erreichbar sein müssen. Auch nachts und am Wochenende delegieren wir Notfälle nicht an den Bereitschaftsdienst der Klinik, sondern es kann immer jemand von uns kommen oder Hilfe organisieren.
Ketisch: Ich bin schon lange ambulant und vor allem aufsuchend tätig, für mich ist es aber etwas vollkommen Anderes, Patienten wie auf einer Station, aber dennoch zuhause zu behandeln. Neben den psychiatrischen Problemen müssen wir uns auch um die nötigen somatischen Untersuchungen und die Medikamentenversorgung kümmern und die gesamte sozialpädagogische und (psycho-)therapeutische Betreuung organisieren.
Wie gelangen Sie zu den Patienten?
Ketisch: Die Zentrale der StäB liegt im Zentrum Münchens, damit wir möglichst wenig fahren müssen. Ursprünglich dachten wir, dass wir das Meiste mit dem Fahrrad und öffentlichen Verkehrsmitteln erledigen könnten. Mit unseren zwei E-Bikes geht das im Sommer bestimmt auch, aber der öffentliche Nahverkehr ist oft weniger geeignet, weil viele Menschen nicht direkt an einer Haltestelle wohnen. Wenn man dann noch umsteigen muss, geht wahnsinnig viel Zeit verloren. Derzeit nutzen wir vier Autos, demnächst werden es sechs sein.
Seit wann gibt es das Angebot? Und wie viele Patienten betreuen Sie mit wie vielen Mitarbeitern?
Ketisch: Unseren ersten Patienten haben wir am 8. Oktober 2018 aufgenommen. Die Zielgröße für die StäB-Einheit ist 20 Patienten. Diese betreuen wir mit insgesamt fünfzehn Mitarbeitern, die aber nicht alle in Vollzeit arbeiten. Wir verfügen insgesamt über 2,5 Arztstellen. Hinzu kommen bei der StäB 1,7 Stellen für Ergotherapeuten und 1,5 für Psychologen, 6 für die Pflege sowie eine halbe Sozialpädagogikstelle. Wichtig ist auch unsere Stationsassistentin /Sekretärin, die die erste Ansprechpartnerin am Telefon ist und uns alle organisiert. Ich selbst arbeite auch direkt an der Behandlung mit, bin aber neben der stationsäquivalenten Behandlung in Haar auch noch für die Organisation der zentralen Aufnahme zuständig, über die auch die Aufnahme in eine stationsäquivalente Behandlung läuft.
Wie sind Sie auf die Idee zur Stationsäquivalenten Behandlung gekommen?
Ketisch: Seit Mitte 2017 gibt es die rechtliche Voraussetzung dafür. Als klar war, dass Kliniken eine StäB anbieten dürfen, hat das kbo-Isar-Amper-Klinikum das Projekt ins Leben gerufen. Was uns meiner Meinung nach auszeichnet, ist dass wir ein ausschließlich stationsäquivalent behandelndes Team haben. Bezüglich der Zahl der Mitarbeiter und der Patienten sind wir bayern- oder sogar deutschlandweit in dieser Größe etwas Besonderes.
Ist die StäB besser als eine stationäre Behandlung?
Ernst-Geyer: Das kann man nicht pauschal sagen. Es gibt viele Patienten, für die die stationäre Behandlung die bessere Option ist. Es gibt aber auch solche, die aufgrund ihrer Lebensumstände besser zu Hause zu behandeln sind.
Ketisch: Wichtige Zielgruppen sind Patienten mit Kindern oder solche, die aus irgendwelchen anderen Gründen nicht in die Klinik wollen oder können. Hinzu kommen die vielen psychiatrischen Patienten, die sagen: „Ich weiß schon, dass ich krank bin, aber in die Klinik gehe ich nicht!“ Häufig rufen uns Angehörige über die zentrale Aufnahme an und erzählen uns, wie schlecht es ihren Verwandten geht, dass diese aber auf keinen Fall in die Klinik wollen. Mit unserem Angebot möchten wir genau diese Patienten erreichen. Wir behandeln dabei nicht die leicht Erkrankten.
Welche Vorteile erleben Sie bei der Behandlung?
Ketisch: Viele unserer Patienten haben Erkrankungen, die sie in ihrer Lebensführung und im beruflichen Alltag stark einschränken. Auf einer Station kann ich ihre Probleme zwar auch erkennen, aber nicht so gut, wie wenn ich sie zu Hause erlebe. Dort sehe ich, wobei die Person Unterstützung braucht, ob sie z.B. mit der Haushaltsführung und ihren behördlichen Angelegenheiten zurechtkommt oder sich in ihrem Umfeld wohlfühlt. Zudem können wir bei der Entlassplanung besser einschätzen, was organisiert werden muss.
Ernst-Geyer: Manche unserer Patienten wurden vorher schon stationär behandelt. Von ihnen hören wir häufig: „Früher bin ich nach der Entlassung wieder nach Hause zurückgekommen und war dann wieder alleine mit meinen dortigen Problemen. Jetzt endlich kommen Sie hierher und wir können die Probleme hier angehen, wo sie entstehen“.
Unter welchen Bedingungen können Sie Patienten in der StäB aufnehmen?
Ernst-Geyer: Das häusliche Umfeld, also Mitbewohner oder Angehörige, müssen einverstanden sein. Die meisten unserer Patienten leben mit Angehörigen zusammen. Wenn Kinder im Haushalt leben, ist in der Regel eine zusätzliche Betreuungsperson vor Ort – seien es Elternteile oder der Partner. Eine Prüfung des Kindswohls ist dann unabdingbar. Ausschlussgründe sind akute Selbst- oder Fremdgefährdung ohne Absprachefähigkeit. Es muss klar sein, dass er oder sie ein Behandlungsbündnis abschließt – auch bezüglich Suizidgefahr.
Ketisch: Auch schwere somatische Erkrankungen machen diese Behandlungsform schwierig, wenn man zum Beispiel einen Diabetes streng überwachen muss oder jemand akut somatisch behandlungsbedürftig ist.
Gibt es Diagnosen, bei denen die StäB besonders gut oder schlecht funktioniert?
Ketisch: In der Hauptsache behandeln wir Patienten mit Erkrankungen aus dem psychotischen Spektrum, bipolar affektive Störungen oder Depressionen, also mit den ICD-10-Diagnosen F2 oder F3. Akute Entgiftungen bei Suchterkrankungen führen wir nicht durch, denn dies kann zu einer überwachungspflichtigen Situation führen, die zu riskant für die StäB ist. Besonders gute Erfolge haben wir bei Patienten mit psychotischen Erkrankungen, die lernen müssen, im täglichen Leben mit ihrer Erkrankung umzugehen. Unsere Patienten und Angehörigen sind sehr dankbar. Ich erinnere mich an einen unserer ersten Patienten, einen schwer psychotischen jungen Mann, der seine Medikamente abgesetzt hatte und sich weigerte, in die Klinik zu gehen. Nach der Behandlung ging es nicht nur dem jungen Mann deutlich besser, sondern auch seine Eltern hatten ein anderes Krankheitsverständnis entwickelt.
Können die Patienten ihren Alltag zu Hause weiterleben, oder warten sie jeden Tag im Bett, bis der Arzt / die Ärztin oder die Pflegekraft kommt?
Ketisch: Das ist sehr unterschiedlich. Wenn jemand es zu Hause überhaupt nicht alleine aushält, ist er oder sie natürlich eher kein Fall für die StäB. Die meisten sitzen auch nicht nur zu Hause und warten auf uns. Aber sie freuen sich schon sehr, wenn wir kommen.
Ernst-Geyer: Es kann dann z.B. sein, dass der oder die Betreuende oder Behandelnde Aufgaben vergibt: Zum Beispiel, dass der Patient bis zum nächsten Besuch etwas eingekauft hat oder auf einem bestimmten Amt gewesen ist – wenn man das nicht gemeinsam erledigt.
Wer betreut die Patienten?
Ketisch: In der Regel besuchen wir sie einmal am Tag, bei Bedarf auch öfter. Grundsätzlich finden unsere Aufnahmegespräche immer zu zweit statt – überwiegend mit Ärzten und Pflege. Danach suchen wir aus, welches Team den Patienten übernimmt. Wenn wir beispielsweise einen psychotischen Patienten ohne Grundsicherung haben, geht neben dem Arzt öfter der Sozialpädagoge hin. Wenn es Probleme bei der Alltagsstruktur und -bewältigung gibt, ist dies ein Fall für die Pflege oder den Ergotherapeuten. Besonders ängstliche Patienten werden häufig von den Psychologen besucht. Ein Facharzt kommt einmal pro Woche zur Visite. Wenn ich als Ärztin allerdings irgendwohin komme und einen akuten Bedarf feststelle, kann ich natürlich nicht sagen: Darum kümmert sich die Schwester in drei Tagen. Was akut notwendig ist, muss auch getan werden. Die Betreuung durch uns findet an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr statt – wir sind da wie im Krankenhaus organisiert.
Dürfen die Patienten während dieser Zeit arbeiten?
Ketisch: Nein, sie sind krank geschrieben, als ob sie im Krankenhaus wären. Aber wenn jemand arbeiten gehen kann, ist sowieso die Frage, ob eine stationäre Behandlung oder eine StäB indiziert ist. Ein Patient in der StäB ist immer „kränker“ als jemand, der in eine Tagklinik geht. Für uns ist es ein Behandlungserfolg, wenn ein Patient nach der StäB eine Tagklinik besuchen kann.
Gibt es eine Altersbeschränkung?
Ketisch: Nein, die Patienten müssen nur über 18 sein. Auch Patienten über 65 Jahren haben wir schon häufiger betreut.
Ernst-Geyer: Behandlungen von Patienten 65 plus würden wir auch gerne ausbauen. Denn gerade Menschen z.B. mit Demenz profitieren ja davon, zu Hause behandelt zu werden und keinen Wohnortwechsel zu haben. Für die Zukunft wird das sicher ein wichtiges Thema sein.
Ketisch: Ich arbeite seit 2005 in der aufsuchenden gerontopsychiatrischen Behandlung. Meine Erfahrung ist, dass sich Angehörige oft erst zu spät melden: Meist gibt es keine Pflegestufe, keinen Pflegedienst, und der Betroffene ist schon sehr aggressiv und psychotisch. Wir hoffen, dass wir solche Menschen künftig mit der StäB früher erreichen.
Rechnet sich die StäB denn finanziell und für den Patienten?
Ketisch: Das können wir noch nicht sagen, denn es gab noch keine entsprechende Vereinbarung mit Kassen. Wir sind im Kontakt mit den Krankenkassen und hoffen auf eine vernünftige Finanzierung, die in anderen Regionen Deutschlands (z.B. Südwürttemberg) bereits Realität ist.
Haben Sie eine Botschaft an Ihre ärztlichen Kolleginnen und Kollegen in München?
Ernst-Geyer: Wichtig ist, daran zu denken, dass StäB keine Nachbetreuung nach einem Klinikaufenthalt ist, sondern eine Akutbehandlung. Der Patient darf – und soll – akut krank sein. Wenn wir Patienten aus dem Krankenhaus übernehmen, kann die StäB eine Fortsetzung der Akutbehandlung sein, mit anderen Mitteln oder Zielen, um die Krankenhausbehandlung zu verkürzen.
Ketisch: Unsere Patienten haben jeden Tag einen intensiven Einzelkontakt, und wir arbeiten intensiv an ihrer Behandlung. Da wir so nah am Patienten sind, erhoffe ich mir am Ende ein besseres Krankheitsverständnis und infolgedessen auch eine bessere Compliance. Möglicherweise sinkt auch die Notwendigkeit einer Wiederaufnahme. Das möchten wir gern wissenschaftlich untersuchen. Zudem wünschen wir uns, dass wir Patienten mit Psychosen in einem möglichst frühen Stadium erreichen, sodass sie nicht zwangseingewiesen werden müssen.
Ernst-Geyer: Und noch ein Anliegen: Obwohl wir unser Team hier trotz Fachkräftemangel relativ zügig aufbauen konnten, suchen wir immer wieder neue Kolleg*innen – Ärzte und Pflegekräfte. Bewerbungen sind über das zentrale Bewerbermanagement der kbo möglich.