Leitartikel

Herzkrankheit: Bewegung als Medikament

Ärztinnen und Ärzte empfehlen ihren herzkranken Patienten häufig, in eine Herzsportgruppe zu gehen. Das allein genügt überhaupt nicht, sagt Prof. Dr. Martin Halle, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Prävention und Sportmedizin am Klinikum rechts der Isar. Im Interview mit den MÄA erklärt er, warum ein individuelles Training häufig wirkt wie ein Medikament.
Herzsport

Herr Prof. Halle, früher dachte man, dass sich Patienten mit Herzproblemen körperlich unbedingt schonen sollten. Stimmt das heute noch?

Darauf kann man mit einem klaren „Nein“ antworten. Noch Mitte der 1980er stand in den Leitlinien für Herzinsuffizienz, dass sich betroffene Patienten auf keinen Fall körperlich belasten sollten. Allerdings gab es damals noch wenig medikamentöse Therapien und damit wenig Optionen zu körperlichem Training. Erst seit der Einführung der optimalen medikamentösen Therapie, insbesondere für die Herzinsuffizienz in den 1990er Jahren, ist dies möglich.

Wie funktioniert dieser Mechanismus?

Durch die immer bessere Pharmakotherapie hat sich die myokardiale Belastbarkeit der Patienten heute stark verbessert. Es ist aber wichtig zu verstehen, dass die Belastbarkeit, und damit die Symptomatik beim Patienten, hauptsächlich über die Peripherie geregelt wird. Diese wiederum wird durch die Medikamente kaum beeinflusst. Die Vorlast- und Nachlastsenkung durch die Dilatation des Gefäßsystems bei Sport und Bewegung hingegen entlasten das Herz. Wenn die Muskulatur optimal durchblutet ist, wird Sauerstoff effizienter aufgenommen, und der Körper kann schneller Energie bereitstellen. Heute besteht bei Herzinsuffizienz laut den aktuellen Guidelines von 2016 höchste Evidenz (Ia) für ein moderates körperliches Training: Die körperliche Symptomatik wird zusätzlich zur medikamentösen Therapie verbessert, und die Rehospitalisationsrate sinkt signifikant.

Auf welchen Studien basieren diese Guidelines?

Zum Beispiel wurden in der HF-ActionStudie 2300 Patienten mit Herzinsuffizienz randomisiert. Eine Gruppe erhielt ausschließlich die aktuellste medikamentöse Therapie, einen implantierbaren Kardioverter Defibrillator (ICD), Resynchronisation, etc. Die zweite absolvierte zudem ein ergänzendes körperliches Training. Beim anschließenden Vergleich beider Gruppen sah man nicht nur, dass sich die Symptomatik und die Rehospitalisationsrate in der Gruppe mit körperlichem Training verbessert hatten. Man erkannte auch eine Dosis-Wirkungs-Beziehung, d.h. je mehr körperliches Training durchgeführt wurde, desto mehr verbesserten sich beide Faktoren. Zwar blieb die Mortalitätsrate in beiden Gruppen gleich. Aus Sichtweise der Patienten ist die Verbesserung der Symptomatik allerdings ebenso entscheidend: Trotz optimaler medikamentöser Therapie sind viele Herzpatienten ohne Training permanent an das eigene Haus gebunden. Wenn sie selbstständig zum Bäcker, zum Fleischer oder mit der U-Bahn in die Stadt gehen können, ist dies für sie ein großer Gewinn an Lebensqualität.

Ist der Erfolg von körperlichem Training auch für Patienten mit anderen Herzerkrankungen erwiesen?

Ja, für fast alle Patienten, also auch für solche mit Herzinfarkt oder einem erhöhten Risiko durch arterielle Hypertonie und Diabetes. Das Feld der Sportkardiologie entwickelt sich immer mehr. Nehmen Sie das Beispiel Vorhofflimmern. Lange dachte man, dass man es kaum aufhalten könne. Doch große Studien zeigen mittlerweile: Patienten, die nach erstmalig auftretendem Vorhofflimmern jeden Tag 30 Minuten spazieren gehen und, bei Übergewicht, über fünf Jahre hinweg fünf oder zehn Kilo verlieren, senken damit ihr Risiko für ein wiederkehrendes Vorhofflimmern um 35 Prozent! Solche Erfolge sind mit rein medikamentöser Therapie nicht zu erreichen. In den Studien hat man gesehen, dass das moderate Training die Ventrikelstruktur im Vorhof verändert: Indem man die Peripherie trainiert, entlastet man das Herz, das so die Möglichkeit hat, sich wieder zu „erholen“. Ein zweites Beispiel: Bei der diastolischen Herzinsuffizienz hat man schon alles versucht: Betablocker, ACE-Hemmer, Diuretika, aber nichts hat wirklich geholfen. Wir haben nun in randomisierten Studien an insgesamt 500 Patienten beobachtet: Wer über ein Jahr hinweg ein Trainingsprogramm durchführt, hat danach eine wesentlich verbesserte Belastbarkeit, auch hinsichtlich der Ergometrie und der Parameter der New York Heart Association (NYHA)-Klassifikation.

Wie sieht es bei der Prävention von Herzerkrankungen aus?

Aktuell bekommen wir Gelder aus dem Innovationsfonds für eine große deutschlandweite Präventionsstudie an 1.500 Patienten mit koronarer Herzkrankheit (KHK) und Diabetes. Eine Gruppe mit 750 Patienten erhält eine intensivierte Therapie mit einer App, telemedizinischem Monitoring und Ernährungsberatung – zur Verbesserung des Lebensstils. Bei der anderen Gruppe gehen wir nach einem Standardtherapieverfahren vor. Dabei schauen wir, ob die Personen in der Interventionsgruppe hinsichtlich harter klinischer Endpunkte profitieren, z.B. ob sie auch seltener ins Krankenhaus aufgenommen werden.

Welches Trainingsprogramm sollten Herzpatienten absolvieren? Geht es eher um Kraft oder eher um Ausdauer?

Für die Patienten ist das Ausdauertraining das A und O. Es wird mit einem leichten Kraft- und Koordinationstraining kombiniert, da unsere Patienten meist älter sind und daher auch ein Training z.B. zur Sturzprophylaxe benötigen. Das Programm von moderater Intensität besteht zu etwa 70 Prozent aus Ausdauer-, 20 Prozent Kraftund 10 Prozent Koordinationstraining. In unserem Institut legen wir die Dosis wie bei einem Medikament durch einen Belastungstest fest - mit einer Spiroergometrie unter Berücksichtigung von Pumpfunktion, Symptomatik und Medikamenten etc., also zum Beispiel einen optimalen Puls von 130/min. Zudem geben wir den Patienten das optimale Trainingsprogramm vor. Es geht nicht nur um die Art des Trainings, sondern auch um den Umfang, also die Dosis. Es ist ja wie bei einem Medikament: Nehme ich eine Tablette oder zwei, mit wie viel Milligramm des Wirkstoffs, und nehme ich sie morgens, mittags oder abends?

Kann man den Patienten nicht einfach die Wahl lassen, wie sie trainieren möchten?

Früher hat man Patienten oft einfach gesagt: Gehen Sie in die Herzsportgruppe. Aber das reicht überhaupt nicht aus! Ganz neue Daten zeigen: Der Effekt zur Reduktion des Gesamtrisikos durch Training liegt bei bis zu 50 Prozent. Bereits mit 4,5 Stunden zügigem Spazierengehen pro Woche bei höherer Belastungsintensität erzielen wir einen gigantischen Effekt. Natürlich müssen die Patienten langsam anfangen, z.B. erst einmal fünf bis zehn Minuten gehen. Aber nach drei Monaten sollten sie ihr Ziel schon erreicht haben. Die Patienten brauchen unbedingt eine klare Anweisung! „Gehen Sie mal in die Herzsportgruppe“ oder „nehmen Sie die Treppe statt den Fahrstuhl“, ist keine klare Angabe! Denn ich als Arzt möchte den Patienten ja die maximal effektive Therapie verordnen. Ich sage zu ihnen ja auch nicht: „Hier haben Sie eine Tüte mit Medikamenten. Suchen Sie sich mal eines heraus, das Ihnen am besten schmeckt.“
Hausarztpraxen müssen unbedingt etwas an der Hand haben, um die große Masse an Patienten, die von einem körperlichen Training profitieren würden, anzuleiten. Die Sportmedizin und -kardiologie hat meiner Ansicht nach den Auftrag, diese Erkenntnisse in die Breite zu tragen. Es soll nicht nur elitär heißen: „Gehen Sie mal zu Professor Halle“. Sondern ich versuche auf Kongressen und Fortbildungen, auch von Pharmaunternehmen, mit meinen Vorträgen einen Gegenpart darzustellen, damit die Ärzteschaft bei diesem Thema gedanklich weiterkommt.

Gibt es eine Empfehlung zum optimalen Zeitpunkt für Sport: Ist er morgens, mittags oder abends?

Dazu haben wir in der Tat keine Empfehlung, das ist aus unserer Sicht egal. Die Frage ist eher: Kann ich auch morgens 15 und abends 15 Minuten spazieren gehen, wenn ich 30 Minuten am Stück nicht schaffe? Dazu gibt es noch nicht viele Daten, aber ich bin überzeugt davon, dass es geht. Ich rate meinen Patienten anfangs oft, sie sollen zweimal fünf Minuten spazieren gehen, weil viele zehn Minuten am Stück anfangs nicht schaffen. Alle meine Patienten erhalten eine Pulsuhr – die kann vom billigsten Anbieter sein. Aber dadurch fühlen sich die Patienten auch sicherer und angeleitet.

Wie sicher ist es denn, wenn herzkranke Patienten Sport treiben?

Viele Ärzte denken zum Beispiel, bei einer Herzsportgruppe müsse immer ein Arzt anwesend sein. Das Risiko, dass in diesen Gruppen etwas passiert, ist aber verschwindend gering. Mittlerweile haben wir in einer großen europaweiten Studie festgestellt, dass nach einer gewissen Zeit sogar ein hoch intensives Training von den meisten herzkranken Patienten toleriert wird. Zudem gibt es häufig Kollegen, die einwenden: „Mein Patient ist zu alt und zu krank für ein Training“. In einer weiteren Studie haben wir aber durchschnittlich 80-jährige Patienten mit künstlichen TAVI-Aortenklappen trainiert, darunter auch eine 92-Jährige. Das Ergebnis war für mich eine Erleuchtung: Gerade alte Menschen profitieren dramatisch von einem Training, weil viele so deutlich dekonditioniert sind. Einige erzählten mir schon nach zwei bis drei Wochen, dass sie alleine zum Einkaufen gegangen sind. Ich denke, wir brauchen unbedingt Fitnessstudios für alte Menschen. Alte Menschen profitieren mindestens so sehr von einem Training wie Jüngere!

Wie ist es mit besonders schwer herzkranken Patienten?

Derzeit arbeiten wir gemeinsam mit den Zentren in Hannover und Berlin an einer Studie mit schwerst herzinsuffizienten Patienten, die für eine Herztransplantation gelistet sind. Diese Patienten trainieren mit einem Herzunterstützungssystem. Das ist so erfolgreich, dass manche von ihren Werten her schon gar nicht mehr transplantiert werden müssten. Von dieser Studie erhoffen wir uns, dass wir auch anhand einer größeren Gruppe zeigen können, dass das Training funktioniert und das Überleben verbessert.

Was kann die Zukunft Ihrer Ansicht nach bringen?

Die Verknüpfung der Kardiologie mit der Sportmedizin ist ein relativ neues Feld, aber es ist wahnsinnig spannend. Mit der medikamentösen Therapie sind wir wahrscheinlich schon am Ende angelangt, aber mit der Sportkardiologie können wir noch viel für die Lebensqualität der Patienten herausholen. Künftig wird es darum gehen, für unterschiedliche Indikationen ein Trainingsprogramm klar zu definieren, zu überwachen und sich telemonitorisch an die niedergelassenen Kardiologen und die Allgemeinärzte anzudocken. Ich bin sicher, dass Hausärztinnen und Hausärzte in wenigen Jahren an der elektronischen Patientenkarte nicht nur die Medikation, sondern auch die Aktivität des Patienten ablesen werden. Unsere bisher durchgeführten Multicenter-Studien gehen in diese Richtung. Weitere Zentren in Deutschland nehmen das Thema auf und kommen für Information und Schulung hierher. Durch dieses Schneeballsystem wird die Kompetenz deutschlandweit größer werden. Noch im alten Jahr fand in München ein sportkardiologisches Symposium statt, in dem auch ein herztransplantierter Ironman-Wettbewerb-Teilnehmer referierte, also ein Teilnehmer an einem äußerst anspruchsvollen Triathlon-Wettbewerb.

Ist er nicht ein Einzelfall?

Natürlich ist er das. Sein Fall zeigt aber: Auch bei schwerster Herzerkrankung und einer Transplantation kann man mit einem Training zusätzlich zu den Medikamenten viel erreichen. Man sollte niemals die Flinte ins Korn werfen. Dieser Patient sagt heute von sich: „Ich bin aus dem Sarg auferstanden.“ Nach der Transplantation hat er sich hochgearbeitet: Anfangs konnte er nur jede Stunde zwei Schritte gehen, doch irgendwann den Klinikflur entlang und irgendwann ist er seinen ersten Marathon und sogar einen Triathlon gelaufen. Sein Beispiel zeigt zum einen: Menschen, spendet Eure Organe für Menschen mit Herzerkrankungen! Damit kann man noch jenseits des eigenen Todes Leben schenken. Zum anderen sieht man: Ein langsam beginnendes körperliches Training kann ergänzend zu einer kompletten Normalität führen. Das ist wirklich phänomenal.

Was würden Sie Ärzten raten, die mit einer eher „normalen“ Patientenklientel zu tun haben?

Vier Punkte sind entscheidend: Erstens: Das Gespräch mit dem Patienten zu körperlichem Training muss geführt werden. Zweitens: Eine klare Anleitung des Patienten zu körperlichem Training ist notwendig. Drittens: Das Überwachen des Trainings mittels Pulsuhr ist nötig. Und viertens: Die Kontrolle durch den Arzt und das stetige Fragen danach sind wichtig: Haben Sie Ihr Training gemacht? Wie kamen Sie zurecht? Kann ich Ihnen weiterhelfen? Es ist wichtig zu vermitteln, dass die Herzsportgruppe zweimal die Woche nicht genügt, sondern dass der Herzsport täglich individuell für jeden einzelnen Patienten stattfinden muss.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler