Die Münchner Ärzteschaft vor und nach 1945. Es kann wieder geschehen.
Herr Prof. von Cranach, warum ist der Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai ein Thema für die Münchner Ärztinnen und Ärzte?
Gerade in derart dramatischen Zeiten, wie wir sie derzeit in der Welt erleben, ist es wichtig, sich an die Wendepunkte der Geschichte zu erinnern. Wir wollen aus der Geschichte lernen und müssen uns ab und zu auch einen Stoß geben, sie zu reflektieren: Wo stehen wir gerade? Wir müssen uns damit konfrontieren, dass wir alle vor gar nicht so langer Zeit extrem versagt haben. Wenn diese Selbstreflexion zu einer kritischen Überprüfung von Haltungen führt, kann das für uns als Berufsstand und als Gesellschaft nur gut sein.
Bei der Veranstaltung am 8. Mai sprechen Sie über das Thema „Leugnen oder sich stellen – die Münchner Ärzte in der Nachkriegszeit“. Um welche Ärztinnen und Ärzte geht es?
In meinem Vortrag werde ich schildern, was für ein Chaos 1945 entstanden ist und wie schwierig es war, eine Ordnung in das System zu bringen. Wie haben die Ärztinnen und Ärzte damals gedacht, wie haben sie gehandelt? Unter welchem Druck und welchen Erwartungen standen sie? Die Amerikaner haben damals versucht, eine neue, gerechtere Medizin aufzubauen, die nicht an die nationalsozialistische Medizin anknüpfen sollte. Wegen des enormen Widerstands der Ärzteschaft gegen einen grundsätzlichen Neuanfang ist das aber leider in vielen Punkten gescheitert. Das zeige ich zum Beispiel anhand des Lebenswegs von Anton von Braunmühl, einem Psychiater, der in Eglfing-Haar an den Krankenmorden beteiligt war. Nach Kriegsende von den Amerikanern abgesetzt, gelang es ihm durch eine Intrige, den von den Amerikanern mit dem Auftrag der Aufklärung der Morde als Direktor eingesetzten Gerhard Schmidt so zu verleumden, dass Schmidt abgesetzt wurde und er seine Stelle bekam. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die Verbrechen ans Licht kamen.
Warum genau war das so?
Während der Nazizeit lag die bayerische Gesundheitsorganisation in den Händen von Walter Schultze, der die Gesundheitsabteilung des Innenministeriums leitete und für Euthanasieaktionen und den Hungererlass mitverantwortlich war. Im gesamten Reichsgebiet sind daran ca. 230.000 Patient*innen gestorben. Nach Kriegsende und Schultzes Absetzung bekam der Arzt Georg Seifert den Auftrag von den Amerikanern, das Gesundheitswesen neu zu gestalten. Noch im Jahr 1945 wurde die Bayerische Landesärztekammer unter Alfred Kallenberger neu gegründet. Er führte ein restriktives Ärztegesetz ein, das z.B. eine Niederlassung nur für in Bayern geborene oder dort mindestens zehn Jahre tätige Ärztinnen und Ärzte erlaubte. Er widersetzte sich auch dem Wunsch der Amerikaner, eine Einheitskrankenkasse einzuführen. Kallenberger wurde rasch wieder abgesetzt, als die Amerikaner 1946 eine Adresskartei mit 40.000 regimetreuen Ärzt*innen entdeckten, die er den Amerikanern verheimlicht hatte. Die Entnazifizierung in Bayern verlief schleppend. 3.548 Ärzt*innen hielt man für mehr als nur Mitläufer, aber nur 39 davon wurde die Approbation entzogen. Offenbar wollte kaum jemand eine tiefgreifende Veränderung. Zudem gab es nur Wenige, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet hatten und bereit waren, eine neue medizinische Ordnung mitzugestalten. Ärztinnen und Ärzte waren während der Nazizeit immerhin die Berufsgruppe mit dem höchsten Prozentsatz an Mitgliedschaften in der NSDAP.
Gab es schon vor 1933 Hinweise auf die Gefahr, dass sich die Medizin wie in der Nazi-Diktatur entwickeln könnte?
Ich beschäftige mich seit den 1980ern intensiv mit den Krankenmorden. Ärztinnen und Ärzte haben im Reichsgebiet insgesamt 230.000 Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen ermordet – und dies offenbar freiwillig. Denn es gab Freiräume: Wer nicht mitmachen wollte, musste das nicht tun. Noch schlimmer für mich und andere war es zu erkennen, dass die Vorstellung von einem unterschiedlichen Wert verschiedener Menschen schon seit der Jahrhundertwende in den Köpfen der Mediziner*innen steckte: Menschen seien als höherwertig oder minderwertig einzustufen. Dies gipfelte schließlich in der Vorstellung von lebenswertem und lebensunwertem Leben. Das grauenvolle Buch „die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Psychiaters Alfred Hoche und des Strafrechtlers Karl Binding ist schon 1920 erschienen – 13 Jahre vor 1933. In den Behinderteneinrichtungen und psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten würden unproduktive Menschen leben, die „nur vegetativ leben“, „Menschenhülsen“ seien, nicht die Eigenschaften einer Person hätten. Deshalb müsse man sie vernichten.
Man kann sich das heute kaum mehr vorstellen.
Damals hatte die Volksgesundheit einen höheren Stellenwert als das Schicksal des Einzelnen. Wir haben aus der Geschichte gelernt. Heute sind wir dem Einzelnen verpflichtet. Die 1946 von der neu gegründeten WHO formulierte visionäre Gesundheitsdefinition verpflichtet uns, nicht Krankheiten, sondern Kranke zu behandeln. Eine zentrale Frage, die wir uns heute stellen sollten, ist: Wollen wir wirklich dafür einstehen, dass alle Menschen gleich sind? Seit Immanuel Kant und der Aufklärung wissen wir um die gleiche Würde aller Menschen und kämpfen darum, diese Idee zu verwirklichen. Doch sie wird immer wieder infrage gestellt. Bis heute gibt es im deutschen Gesundheitswesen Ungleichheit und Diskriminierung, viele Menschen sind nicht versichert, Migrant*innen haben oft einen erschwerten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Bevölkerungsgruppen haben unterschiedliche Lebenserwartungen. Im Vergleich zu den früheren Verbrechen mag das gering erscheinen, aber für die Betroffenen ist es gravierend.
Geht es in Ihrem Vortrag ausschließlich um die Psychiatrie oder auch um andere Fachgebiete?
Ich werde über die allgemeine Situation der Medizin in München in der unmittelbaren Nachkriegszeit sprechen, aber Beispiele auch aus der Psychiatrie bringen, weil ich diese besser kenne. Ähnliche Beispiele ließen sich aber aus allen anderen Bereichen finden. Anschließend wird PD Dr. Mathias Schütz (Thema: "Dis-)-Kontinuitäten des ärztlichen Selbstverständnisses angesichts der nationalsozialistischen Medizinverbrechen") über die Entwicklung ärztlicher Menschenbilder bis heute sprechen. Danach wollen wir mit Betroffenen und den Bürger*innen diskutieren.
Warum ist diese Diskussion wichtig?
Wir müssen für die Zukunft vorbereitet sein. Die Medizin wird in den kommenden Jahren große Fortschritte machen. Gleichzeitig stößt die Versorgung finanziell an Grenzen. Eine Rationierung ist aber eigentlich undenkbar, denn wir müssen das Grundprinzip wahren, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Es beunruhigt mich sehr, dass die soziale Schicht die Lebenserwartung stark beeinflusst. Liegt das an der unterschiedlichen Lebensweise oder an den unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten? Wie stellen wir uns zur Diversität des Menschen?
Wie weit denken wir Inklusion? Die Geschichte hilft uns, hier Stellung zu nehmen.
Sollten wir nicht einfach akzeptieren, dass die Zeiten damals andere waren und das Thema abhaken?
Nein, auf keinen Fall. Ja, es gibt vielleicht Kolleginnen und Kollegen, die entschuldigend sagen: Man muss den Zeitgeist berücksichtigen. Aber natürlich gab es auch damals Ärztinnen und Ärzte, die völlig anders dachten – so, wie wir heute. Eine ähnliche Situation könnte wiederkommen, und darauf müssen wir vorbereitet sein. Ich kann heute nicht sagen, ob ich damals anders gehandelt hätte als die Mehrheit. Deshalb müssen wir uns damit auseinandersetzen und die Demokratie immer wieder neu erkämpfen. Wenn die AfD Inklusion als einen Irrweg bezeichnen, müssen die Alarmglocken läuten.
Was würden Sie Ärztinnen und Ärzten der jüngeren Generationen gern mit auf den Weg geben?
Die wichtigste Erkenntnis aus meiner Arbeit ist: Wir behandeln nicht in erster Linie Krankheiten, sondern kranke Menschen. Das klingt banal, ist aber essenziell. Als die Weltgesundheitsorganisation 1946 Gesundheit als körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden definierte, und nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, wurde das von der deutschen Ärzteschaft oft belächelt. Doch diese Definition verändert ärztliches Handeln grundlegend. Ich sehe heute die Gefahr, dass die Medizin zu technisch wird und dabei den Menschen aus dem Blick verliert.
Glauben Sie, dass ein ärztliches Handeln wie im „Dritten Reich“ nochmal möglich wäre?
In dem Umfang wie damals kann ich es mir nicht vorstellen. Aber der italienische Holocaust-Überlebende Primo Levi hat gesagt: „Es ist einmal geschehen, also kann es wieder geschehen.“ Wir Ärztinnen und Ärzte haben einmal versagt – warum sollten wir nicht ein zweites Mal versagen? Wir würden es uns zu leicht machen, wenn wir sagen würden: Das sind vergangene Zeiten, sie kommen nicht wieder.
Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA 07 vom 29.03.2025
Das Programm zur Veranstaltung finden Sie auf Seite 6 und 7 der aktuellen Ausgabe der MÄA.