Kinderschutz an Kliniken. Dem Bauchgefühl trauen
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Herr Dr. Brickmann, warum braucht es in der München Klinik Harlaching besondere Abläufe für den Kinderschutz?
Brickmann: Es gibt eine rechtliche Vorgabe: Alle Klinikabteilungen, die in irgendeiner Form Kinder behandeln, müssen ein Schutzkonzept vorweisen können. Wir müssen unsere Patient*innen, aber auch andere Minderjährige wie z.B. Praktikant*innen, vor potenziellen Übergriffen im Haus schützen: vor sexuellen Übergriffen, körperlicher Gewalt, aber auch vor Verbal Abuse. Auch alle Patient*innen, die zur medizinischen Begutachtung und Behandlung hierher kommen, müssen wir auf Warnhinweise für eine Kindeswohlgefährdung screenen und bei Bedarf entsprechende Schritte einleiten. Dafür braucht es ein Team, das sich damit auskennt. Im Rahmen der Ausbildung findet ein dahingehendes Training nämlich leider noch nicht statt.
Zeh: Im Medizinstudium ist das Thema Kinderschutz leider noch nicht Pflicht. Einzelne Berufsgruppen, etwa die Pflegekräfte an der TU München, haben dies freiwillig in ihren Lehrplan aufgenommen. Bei den Pädiater*innen ist das Thema inzwischen immerhin Bestandteil des Facharztkatalogs, bei den Kinderchirurg*innen aber leider noch nicht. Es gibt allerdings freiwillige Online-Fortbildungen und eine Zusatzausbildung zum / zur Kinderschutzmediziner*in.
Was tun Sie konkret?
Brickmann: Wir Kinderärzt*innen im breiteren Sinn waren schon immer für den Kinderschutz sensibilisiert und engagiert – auch wenn unsere Arbeit lange Zeit nur auf Idealismus basierte. Aber viele Kolleg*innen aus der Erwachsenenmedizin, die Kinder mitbehandeln, sind im Umgang mit Kindern nicht geschult. z.B. Chirurg*innen oder Traumatolog*innen. Daher haben wir einmal in der Woche fixe Besprechungstermine bei uns in der Klinik, bei denen aus jeder Abteilung oder von jeder Station, die Kinder behandelt, mindestens eine Person anwesend sein soll – auch z.B. aus der Notfallmedizin oder der Geburtshilfe. Mittlerweile kommen häufig sogar drei bis vier Personen aus verschiedenen Berufsgruppen, darunter auch Pflegekräfte und Hebammen. Dort besprechen wir alle Situationen, die uns im klinischen Alltag aufgefallen sind, auch wenn wir dabei nur ein schlechtes Bauchgefühl hatten. Das hat dazu geführt, dass mittlerweile alle wissen, an wen sie sich wenden müssen, wenn etwas auch außerhalb dieses Termins passiert.
Wie werden die Treffen angenommen?
Brickmann: Als wir Ende 2021 damit gestartet haben, mussten wir unsere Kolleg*innen häufig noch kurz vorher daran erinnern. Aber wir halten die Termine mit zehn bis fünfzehn Minuten grundsätzlich knapp und besprechen konkrete Fälle nochmal separat. Dadurch hat sich das Treffen fest etabliert, und die Sensibilität gegenüber dem Thema ist gestiegen. Heute kommen jeweils zwischen 20 und 25 Mitarbeitende unterschiedlicher Fachrichtungen. Darunter befinden sich auch einige Praktikant*innen, Famulant*innen oder PJ-Student*innen, die dadurch merken: Kinderschutz ist kein Tabuthema. Auch in Schwabing mit seiner großen Kinderklinik und den Geburtshelfer*innen gibt es solche Treffen. Neuperlach mit seiner Level- 4-Geburtsklinik versorgen wir über einen Zoom-Termin mit. Parallel dazu entwickeln wir derzeit ein Fortbildungskonzept, mit dem wir alle Erwachsenenabteilungen der München Klinik ins Boot holen und sie spezifisch fortbilden möchten.
Woran erkennen Sie, dass ein Kind oder eine Jugendliche Schutz braucht?
Brickmann: Das lässt sich oft nicht an starren Punkten festmachen. Warnsignalbögen und Skripte können helfen, aber wir haben gemerkt, dass sich vieles auch aus der sozialen Interaktion zwischen dem Personal und den Eltern ergibt. Wir legen sehr viel Wert auf das Gefühl der Mitarbeitenden. Wenn diese z.B. denken: „Irgendetwas stimmt da nicht“ oder „nach Entlassung zu Hause könnte etwas passieren“, dann nehmen wir das ernst und überlegen, wie wir für die Familie zu Hause Unterstützung organisieren können – zum Beispiel durch Frühe Hilfen oder die Münchner Kinderkrankenschwestern. In unseren internen Fortbildungen geht es trotzdem noch darum, wie man einen Bluterguss erkennt oder wie man sich verhält, wenn ein Kind bestimmte Dinge erzählt, sich besonders verhält oder es ungeklärte Verletzungsmuster gibt. Uns geht es aber vor allem auch um die Fälle, in denen noch nichts passiert ist.
Was passiert, wenn jemand in der Konferenz einen Verdacht äußert?
Brickmann: Das ist sehr klar vorgegeben, denn mittlerweile können wir diese Arbeit durch sogenannte OPS- Ziffern endlich auch finanziell abbilden. Für die Bewilligung macht der Medizinische Dienst der Krankenkassen aber harte Vorgaben. Es braucht z.B. einen Ablaufplan, der beschreibt, welche Fachdisziplinen beteiligt sein müssen, wie das Vorgehen protokolliert wird etc. Sobald wir einen tatsächlichen Vorfall feststellen, können wir nicht mehr nur unterstützen, sondern müssen weitere Hilfen andenken, Konsile mit dem Psychosozialdienst planen und evtl. sogar das Jugendamt informieren. Dann treffen sich alle zu einem Termin, um zu besprechen, wie wir weitermachen.
Zeh: Neben dem gesetzlich vorgegebenen Schutzkonzept sollten zusätzlich eigentlich alle rund 40 Kinderkliniken und -abteilungen in Bayern eine möglichst gut geschulte interdisziplinäre Kinderschutzgruppe haben – bestehend aus Ärzt*innen, Pflegekräften, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen. Die Bildung und die Arbeit dieser Kinderschutzgruppen zu unterstützen ist eine unserer Aufgaben der Bayerischen Kinderschutzambulanz am Institut für Rechtsmedizin. Die Gruppen sollten für alle Klinikmitarbeiter*innen gut und schnell erreichbar sein. Im Team wird dann besprochen, ob und wenn ja welche weitere medizinische Diagnostik oder Informationen nötig sind, um einschätzen zu können, ob eine Gefährdung für das Kindeswohl vorliegt. Dann folgen Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern bzw. Sorgeberechtigten, und es werden Hilfen für die Familien organisiert.
Brickmann: An der München Klinik haben wir zusätzlich zu unserem für alle fünf Standorte erreichbaren Kinderschutzzentrum an jedem Standort auch eine eigene Kinderschutzgruppe, die sich mit dieser Thematik auskennt und immer erreichbar ist, sobald jemandem etwas auffällt – auch nachts und am Wochenende. Denn häufig kommen diese Fälle, bei denen man sich unsicher ist, nachts.
Frau Dr. Zeh, aus dem „eigentlich“ höre ich heraus, dass noch nicht alle bayerischen Kliniken Kinderschutzgruppen haben.
Zeh: Das ist richtig. Denn Kinderschutz ist sehr zeitaufwändig, und es braucht dafür Menschen, die sich nicht nur damit auskennen, sondern auch Kapazitäten dafür haben. Sonst werden kritische Fälle tendenziell nicht gemeldet. Es ist wichtig, dass man einen Verdacht niederschwellig melden und das Thema dann auch abgeben kann. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin vergibt eine Akkreditierung an Kliniken, wenn diese nach den aktuellen Vorgaben der mit 359 Seiten sehr umfangreichen und komplexen Kinderschutzleitlinie arbeiten. Dadurch lassen sich Kinderschutzmaßnahmen wie die Bildung von Kinderschutzgruppen nach individueller Vereinbarung mit den Krankenkassen auch abrechnen.
Wann sollten die Kinderschutzgruppen ins Boot geholt werden?
Zeh: Immer wenn man Sorge um das körperliche und/oder psychische Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen hat. Zum Beispiel, wenn eine Verletzung nicht zu dem angegebenen Unfallhergang passt oder sich eine Familie ohne Erklärung erst zeitverzögert vorstellt, z.B. erst vier Tage nach einer ausgedehnten Verbrühung, die ja normalerweise sehr schmerzhaft ist und versorgt werden muss. Oder wenn eine Verletzung nicht zum Entwicklungsstand des Kindes passt und es keine plausible Erklärung gibt, weil sich z.B. ein Baby etwas gebrochen hat, obwohl es sich noch gar nicht selbst fortbewegen kann. Diese und andere Alarmzeichen sollten alle kennen, die in einer Notaufnahme arbeiten. Und sie müssen dann die Kinderschutzgruppe informieren, damit diese beurteilt, ob es typische Anzeichen für eine Misshandlung gibt, oder ob es unfallbedingt passiert sein könnte und ob Hilfebedarf bei der Familie besteht. Wenn man dies nicht so schnell herausfinden kann, werden die Kinder zunächst in der Klinik stationär aufgenommen. Dann machen die Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen aus der Kinderschutzgruppe mit den Eltern eine soziale Anamnese: Wie geht es der Familie zu Hause? Gibt es Geschwisterkinder? Wie ist das Umfeld? Jeder Fall wird in einer Fallbesprechung besprochen. Selbst wenn man an von einer unfallbedingten Verletzung ausgeht, hat die Familie vielleicht trotzdem Hilfebedarf.
Was passiert, wenn die Eltern nicht in der Klinik bleiben wollen?
Brickmann: Das ist tatsächlich eins der Spannungsfelder. Ein gut ausgebildetes Team mit Erfahrung schafft es normalerweise, die Eltern und die Kinder so „abzuholen“, dass sie stationär aufgenommen werden. Dadurch können wir das Thema dann am nächsten Tag entspannt angehen – mit Ruhe und ausgeschlafen statt z.B. Freitag abends um 19 Uhr, wo viele Kolleg*innen schon weg sind. Wir möchten vermeiden, hektisch Entscheidungen zu treffen.
Zeh: Aber die Mitarbeitenden müssen dafür sensibilisiert sein. Der Arzt in der Notaufnahme im Dienst muss trotzdem mit Oberarzt*ärztin im Hintergrund entscheiden, ob die Familie nach Hause entlassen und zum Beispiel am nächsten Morgen nochmal einbestellt wird, oder ob Gefahr in Verzug ist und das Kind in dieses Umfeld zunächst nicht mehr zurückkann. Wenn die Eltern gar nicht mit- machen, kann man im allergrößten Notfall das Jugendamt anrufen. Dann entscheidet das Amt, ob das Kind nochmal nach Hause kann. In der Regel machen die Eltern aber mit, wenn man z.B. sagt: „Ihr Kind hat eine komische Verletzung. Wir machen uns Sorgen, genauso wie Sie. Deshalb sind Sie ja auch gekommen. Wir wollen alle das Gleiche.“
Was raten Sie Kolleg*innen, die irgendwann mit dem Thema zu tun haben?
Zeh: Das Wichtigste ist, dem eigenen schlechten Bauchgefühl nachzugehen – auch wenn man in einer Praxis arbeitet. Nicht wegschauen und denken: „Da wird schon nichts sein.“ Man sollte das Kind gründlich untersuchen, sich die Zeit nehmen, es zu entkleiden und schauen, ob man noch etwas Auffälliges findet – auch etwa im Hinblick auf Ernährungszustand, Pflegezustand. Ist das Kind wetteradäquat gekleidet? Sind die Zähne gepflegt? Wie ist der der Entwicklungsstand? Wie präsentiert sich das Kind? Wie ist seine Interaktion mit den Eltern und dem Arzt? Je nach Ergebnis und eigener Kapazität überweist man das Kind dann in eine Klinik mit einer Kinderschutzgruppe, oder man wendet sich an die Bayerische Kinderschutzambulanz.
Brickmann: Wenn man wirklich ein schlechtes Gefühl oder klare Anzeichen von Gewalt findet, sollte man nichts überhasten, und auch nicht emotionalisieren, sondern erst einmal Fakten sammeln und dann über den nächsten Schritt nachdenken. Es ist wichtig, nicht gleich eine Vorwurfshaltung einzunehmen, sondern den Fall in Ruhe an ein multidisziplinäres Team zu überweisen, die sich kompetent und mit Zeit darum kümmern können.
Frau Prof. Mützel, was tut die Bayerische Kinderschutzambulanz zusätzlich, um Kinder und Jugendliche zu schützen?
Mützel: Als das Landesweite Kompetenzzentrum Bayerische Kinderschutzambulanz sind wir für alle Ärztinnen und Ärzte zuständig, die mit Kindern zu tun haben, genauso wie für die Betroffenen selbst, Personensorgeberechtigte sowie alle öffentlich-sozialen Einrichtungen wie etwa die Jugendämter in ganz Bayern. Dafür sind wir 24/7 erreichbar. Zu allen Gewaltformen (körperlich, sexuell, seelisch, Vernachlässigung) können Fragen und Fälle an uns herangetragen werden. Um eine Beratung zu einem Fall schnell und kompetent durchführen zu können, wurde und wird sowohl in München als auch in ganz Bayern eine Vernetzungsstruktur geschaffen, die die Expertise bündelt. Zeitgleich arbeiten wir vor Ort gemeinsam mit allen Netzwerkpartnern darauf hin, dass Strukturen zum verbesserten Kinderschutz umgesetzt werden können. Wir bieten eine Fülle von Leistungen an (Anm. der Redaktion: siehe Kasten und Interview mit Prof. Mützel in den MÄA 13/2021).
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA 03/2025 vom 01.02.2025