83. Bayerischer Ärztetag in Lindau. Zeiten des Umbruchs
Foto: Ina Koker
Transformation lautete das Stichwort an vielen Stellen – bei der Eröffnungsfeier genauso wie bei der Arbeitstagung. Die „Generation Z“ verändert den Arbeitsmarkt, digitale Techniken stellen althergebrachte Systeme auch im Gesundheitswesen auf den Kopf. Dabei geht es auch um Werte: Wo bleibt der Mensch in einer schnelleren, digitalen Welt? Und wie können sich Einzelne gegen den Informationsanspruch des Staats oder von Institutionen wie Krankenkassen wehren? Digitale Lösungen sollen bürokratische Akte ersetzen. Doch gleichzeitig dürfen Menschlichkeit und Datenschutz nicht auf der Strecke bleiben.
Vor welchen Herausforderungen die Gesellschaft und damit auch die Ärzteschaft steht, zeigte bereits die Eröffnungsfeier am 11. Oktober. Eingeladen hatte die Bayerische Landesärztekammer als Veranstalter nicht nur die Gesundheits-, Pflege- und Präventionsministerin Judith Gerlach und Lindaus Oberbürgermeisterin Dr. Claudia Alfons. Auf dem Programm stand auch ein Vortrag des „Jugendforschers, Speakers, Futuristen“ Simon Schnetzer.
Dieser begann seine Rede mit einem gepfiffenen „Freude schöner Götterfunken“, winkte aber sofort ab: Dies sei nicht der Sound der „Generation Z“, der Geburtsjahrgänge 1995 bis 2010. Stattdessen zitierte er den eher melancholischironischen „letzten Song“ des deutschen Rappers Felix Kummer. Darin heißt es im Refrain: „Alles wird gut. Die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch. Aber alles wird gut. Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt. Aber alles wird gut“. Das dort besungene pessimistische Weltuntergangsszenario treffe viel eher die Stimmung junger Menschen als Beethovens vertontes Schiller-Gedicht. Über 50 Prozent der „Generation Z“ fühle sich laut Untersuchungen „gestresst“ – gegenüber nur 20 Prozent der 50- bis 69-Jährigen.
Im Sorgenranking der Generation Z stehe neben Familie und Gesundheit das Thema Freiheit ganz oben. Einen Ausweg aus der Krisenstimmung ermögliche in Zeiten von Inflation, Krieg und knappem, teurem Wohnraum vor allem Geld. Künftige Arbeitgeber*innen müssten wissen:
Geld stelle für die nachwachsende Generation einen wichtigen Sicherheitsfaktor dar. Neben einer gut bezahlten Arbeit wünschten sich junge Menschen auch eine gute, vertrauensvolle Atmosphäre. Vor geplanten Einstellungen sei es daher wichtig, in intensiven Gesprächen mit dem beruflichen Nachwuchs ein Pre-Boarding zu machen und sich um die künftigen Kräfte zu kümmern: Wann macht die Arbeit keinen Spaß? Diese Frage müsse sich jede*r Arbeitgeber*in künftig stellen.
Die wichtigsten Mittel, die Generation Z zu begeistern, sind laut Schnetzer Beteiligung und Selbstwirksamkeit. Viele fragten sich, war- um Prozesse so alt – und das bedeutet oft auch nicht digitalisiert – seien. Schnetzer lud die Anwesenden dazu ein, in einem zügigen Rhythmus gemeinsam zu klatschen. So lange brauche ein junger Mensch, um von ihm gemachte Fotos mit anderen zu teilen. Die Fachkräfte von morgen hätten nicht die Geduld von Angehörigen älterer Generationen, die mit analogen Filmkameras und Diashows aufgewachsen seien. Statt- dessen erwarteten sie, dass man auf ihre Bedürfnisse eingehe und digitale Prozesse zügig vorantreibe.
Die Themen Sicherung der Zukunft des ärztlichen Nachwuchses, der Praxen und Krankenhäuser, aber auch der ärztlichen Körperschaften, zogen sich auch durch die Vollversammlung an den folgenden beiden Tagen. „Die Bayerische Landesärztekammer und ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten mögen sich dafür einsetzen, unseren Beruf attraktiv, zukunftsfähig und gesellschaftlich wertvoll zu gestalten und ihn nach Außen genau so darzustellen“, forderten die Delegierten dementsprechend in einem ihrer ersten Anträge. „Originär ärztliche Kompetenzen wie Impfen, Medikamentenberatung, Präventionsmaßnahmen, Mutterschaftsvorsorge“ müssten aufgewertet und angemessen vergütet werden. Bei den Ärztetagen brauche es künftig „bei ausgewählten Themen“ interaktive Formate. Gewählte Mandatsträger wie die Delegierten der Bayerischen Ärztetage müssten sich und ihre Ideen zum Beispiel auf einer von der BLÄK gestalteten Website vor- und darstellen können. Zusätzlich bräuchten sie einen im Heilberufe-Kammergesetz verbrieften Anspruch auf Freistellung von der Arbeitspflicht.
Die Digitalisierung soll und muss nach Meinung vieler Delegierter auch im Alltag von Kliniken und Praxen voranschreiten – nur dürfen Nutzerfreundlichkeit und Datenschutz darunter nicht leiden. Dies beschlossen die Delegierten etwa im Hinblick auf die elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigun (eAU) oder das E-Rezept. Digitale Überweisungen müssten praktikabel und quartalsübergreifend funktionieren, dabei aber trotzdem Datenschutzstandards entsprechen. Der bürokratische Mehraufwand durch erneute Überweisungsanforderung sei zu reduzieren. Praxissoftwaresysteme (PVS), fanden die Delegierten, müssen „nutzerorientiert, funktional und interoperabel“ weiterentwickelt werden, damit sie nahtlos in die Telematikinfrastruktur integriert werden können. Das Plenum forderte auch, dass der Wechsel zwischen verschiedenen PVS-Anbietern erleichtert, die Nutzerfreundlichkeit regelmäßig kontrolliert und Defizite beseitigt werden – durch konsequente Anwendung und Verschärfung des bereits bestehenden Gesundheits-Digitalagentur-Gesetzes.
Eine gesetzliche Förderung des Digitalisierungsprozesses vor allem bei inhabergeführten Praxen sei dringend notwendig, so lautet ein Beschluss des Ärztetags. Der Einsatz von KI müsse unabhängig von wirtschaftlichen Interessen möglich sein. Dazu brauche es staatlich geförderte KI-Forschungsprojekte. Gleichzeitig verwehrte sich das Plenum gegen digitale Gesundheitsapps (DiGAs), deren „positiver Versorgungseffekt“ nicht nachgewiesen werden könne. Solche Anwendungen müssten von der Liste des Bundesinstituts für Arzneimitteln und Medizinprodukte (BfArM) verschwinden. Schaffen müsse der Gesetzgeber stattdessen „eine funktionierende digitale Intra- und intersektorale Kommunikationsstruktur“ zwischen Krankenhäusern, Praxen, Reha-Einrichtungen sowie ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen und Heimen der Eingliederungshilfe.
Auch die Krankenhäuser brauchen mehr staatliche Unterstützung, betonten die Delegierten. Vielerorts sei es inzwischen zu einem erheblichen Personalmangel gekommen, sodass die Wahrscheinlichkeit von Behandlungsfehlern steige und ein Teufelskreis entstehe, der zu immer mehr Personalmangel führe. Geflüchtete oder Schutzsuchende, die „erfolgreich in Beruf und Ausbildung tätig seien“, dürften keinesfalls abgeschoben werden, sondern müssten möglichst schnell anerkannt werden. Vor dem Hintergrund steigender Mietpreise forderte das Ärzteparlament unter anderem neue Mobilitätskonzepte und bezahlbaren Wohnraum, um etwa an der Hochschulmedizin als Arbeitsgeber attraktiv zu bleiben.
Unterstützung benötigten Krankenhäuser sowohl bei der Einweisung als auch bei Entlassungen, die entbürokratisiert werden müssten. Alle relevanten patientenbezogenen Daten müssten bei der Einweisung weitergegeben werden. Das Entlassmanagement sei derzeit unzureichend und müsse sich entsprechend der Bedürfnisse von Patient*innen und Behandler*innen ändern. Vor allem bei multimorbiden, alleinstehenden, palliativ versorgten und komplexbehinderten Menschen funktioniere es derzeit nicht. Freiwerdende Kapazitäten, etwa durch das Krankenhausversorgungsverbesserungssgesetz, könne man zur Übergangs- und Kurzzeitpflege nutzen, schlugen die Delegierten vor. Um die Bedürfnisse und die Lage von Menschen mit schwerer geistiger und komplexer Behinderung bei einem gleichzeitigen organmedizinischen Problem in den Krankenhäusern zu analysieren, solle die Bayerische Staatsregierung dazu einen Bericht erstellen.
Zusätzliche Schwerpunkte des 83. Bayerischen Ärztetags waren Kindergesundheit und Klimaschutz. Um die Gesundheit von Kindern zu schützen, regten die Delegierten eine Förderung smartphonefreier Schulen an. Wirkungsvolle Altersverifikationssysteme im Internet und bei Social Media sowie besser ausgebaute Aufklärungskampagnen zur digitalen Mediennutzung seien nötig, damit Kinder und Jugendliche gesund heranwachsen können. Gesundheitsbildung müsse endlich in den Schulunterricht integriert werden – durch konkrete Lerninhalte zu Ernährung, Bewegung, Sexualität, psychischer Gesundheit, Verhalten im Notfall und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Von der Bundesregierung forderte das Plenum in eigenen Anträgen eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke und Lebensmittel sowie eine Beendigung der Subventionen in fossile Energieträger. „Alle Beteiligten und Zuständigen“ müssten auf das Ziel eines klimaneutralen Gesundheitswesens in 2035 hinwirken.
In weiteren Anträgen ging es zum Beispiel um den Erhalt und Verbesserungen im ärztlichen Notarztwesen. Die Bayerische Landesärztekammer wurde aufgefordert, die Fortbildung der Notärzt*innen zu verbessern. Auch die ärztliche Psychotherapie brauche eine konsequente Stärkung, damit sie nicht aufgrund von Nachwuchsmangel schließlich aus der Versorgung verschwinde. Damit Patient*innen und Eltern Impfungen nicht aufgrund von Impfmythen und Falschinformationen ablehnen, brauche es feste Curricula zur Gesprächsführung in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sowie spezielle Fortbildungen für impfende Ärzt*innen. Zur Verbesserung der Situation von Drogenabhängigen forderte das Planum die bayerische Staatsregierung dazu auf, flächendeckend Räume für die niederschwellige Substitution einzurichten. Der Bundesgesetzgeber müsse Buprenorphin aus dem Betäubungsmittelgesetz streichen und eine niederschwellige Substitution durch Hausärzt*innen ermöglichen. Bei der Organspende setzte sich das Ärzteparlament in einem Beschluss für die Widerspruchslösung ein.
Das kontroverseste Thema hatte sich der Ärztetag für den Sonntag aufgespart: die Erhöhung der Beiträge zur Landesärztekammer. „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“, zitierte der Hauptgeschäftsführer der BLÄK, Frank Dollendorf, aus dem italienischen Roman „der Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896-1957). Um im Rahmen des Strategie-Projekts „BLÄK 2028 – fit für die Zukunft“ zum Beispiel künftig passende Fachkräfte gewinnen zu können und die BLÄK vollständig zu digitalisieren, seien Beitragserhöhungen und die Einbeziehung von Rentner*innen alternativlos. Mit einer großen Mehrheit wurden die neuen Beiträge beschlossen. Weitere Informationen dazu finden sich auf → www.blaek.de.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA 23 vom 02.11.2024