Leitartikel

Kollegiale Führung. Alle für eines - eine*r für alle

Ein Chefarzt oder eine Chefärztin für eine Klinik – könnte dieses Modell künftig der Vergangenheit angehören? Die Klinik für Neurologie der München Klinik (MüK) Harlaching jedenfalls geht andere Wege. Seit dem 1. Juli führen Dr. Elisabeth Frank, Dr. Gordian Hubert und Dr. Dennis Dietrich die Klinik zu dritt im Kollegialsystem. Mit den MÄA sprachen sie darüber.
Alle für eines - eine*r für alle
Alle für eines - eine*r für alle

Foto: Shutterstock

Was kann ich mir unter einer Führung im Kollegialsystem vorstellen?

Hubert: Wir drei haben schon bisher sehr intensiv in unseren Schwerpunkten Schlaganfall-Intensivmedizin, Allgemeinneurologie – mit zunehmender Ambulantisierung – und Telemedizin zusammengearbeitet. Bis zu seinem Ruhestand allerdings mit Professor Roman Haberl als Chefarzt an der Spitze. Unser Prinzip: Jede*r leitet eigenständig seine Abteilung oder sein Zentrum. So können wir in unseren kleineren Bereichen vieles direkt und schnell umsetzen. Zudem haben wir Gemeinsamkeiten definiert, die wir zusammen entscheiden wollen.

Dietrich: Unser Ziel ist, dass die Klinik für Neurologie erhalten bleibt – mit allen Aufgaben und mit der Spezialisierung der letzten Jahre in Form von drei Abteilungen – unter einem Dach und mit einer kollegialen Führung.

Wie wird das konkret umgesetzt?

Frank: Wir sind zu dritt das Chefarztgremium der Klinik für Neurologie. Gleichzeitig sind wir alle einzeln die Leiter*innen unserer Abteilungen – Dr. Hubert für Telemedizin (TEMPiS), Dr. Dietrich für Schlaganfall, vaskuläre Neurologie und neurologische Intensivmedizin und ich für die allgemeine Neurologie und die neurologische Früh-Reha. Dadurch sind wir inhaltlich sehr nah am Geschehen und an den Mitarbeitenden und können vieles direkt und schnell entscheiden. Gleichzeitig braucht man in der Krankenhauslandschaft große Abteilungen, um Synergien zu nutzen. Eine gemeinsame Säule bei uns ist z.B. die Weiterbildung der Assistenzärzt*innen. Auch über medizinische Standards und die strategische Ausrichtung entscheiden wir gemeinsam. Dazu treffen wir uns mindestens einmal die Woche, bei größeren Entscheidungen auch öfter.

Gibt es weitere Pläne zur Organisation der internen Zusammenarbeit?

Hubert: Neben der organisatorischen Dreierstruktur wollen wir auch eine größere fachliche Spezialisierung herausarbeiten. Dazu wollen wir noch mehr Fachbereiche und Schwerpunkte definieren und dort auch Leiter*innen einsetzen – und zwar abteilungsübergreifend im Schlaganfallzentrum, im allgemeinen neurologischen Bereich und in der Telemedizin.

Dietrich: Auf der einen Seite muss die Abteilung groß werden, um hohe Fallzahlen zu haben und medizinisch wie wirtschaftlich gut zu arbeiten. Auf der anderen Seite wird alles immer spezialisierter. In unserem Lösungsansatz haben wir einzelne, aber sehr gut vernetzte Säulen, auch in fachlichen Einzelbereichen. Wir glauben, dass das die Zukunft ist.

Frank: Sogar über die Grenze unserer Klinik hinweg stehen wir für eine interdisziplinäre Vernetzung mit der gesamten München Klinik und suchen Synergien zu anderen Fachabteilungen. Die Neurologie arbeitet mit ganz unterschiedlichen Fächern zusammen. Beim Schlaganfall z.B. braucht es auch die Neuroradiologie und die Neurochirurgie, bei der Wirbelsäule auch die Unfallchirurgie und Physikalische Medizin.

Hängt die neue Führungsstruktur mit dem neuen Konzept MüK 20++ zusammen (s. MÄA 15/2024)?

Dietrich: MüK 20++ passt gut zu unserem Konzept, ist aber unabhängig davon entstanden. MüK 20++ nimmt viele Elemente aus unserem Konzept auf, weil es medizinisch sinnvoll ist. Die immer weitergehende Spezialisierung betrifft nicht nur die Neurologie, sondern die ganze medizinische Landschaft.

Hubert: Es ist auf jeden Fall ein großes Thema bei MüK 20++, der Telemedizin eine größere Eigenständigkeit zu geben. Die bisher vor allem neurologisch tätige Telemedizin soll auch auf andere Fachbereiche ausgeweitet werden. Zudem sollen sich die verschiedenen MüK-Häuser telemedizinisch vernetzen, damit z.B. wir in Bogenhausen und Harlaching mit unserer neurologischen Expertise künftig auch in Schwabing und Neuperlach beraten und helfen können. Dieses Konzept gilt es, in den nächsten sechs bis 12 Monaten zu entwickeln.

Wie einfach ist es, als Team mit drei unterschiedlichen Köpfen zu Entscheidungen zu kommen?

Hubert: Es soll jedes Mal eine Konsensentscheidung sein, und wir haben auch schon eine Struktur erarbeitet, was wir tun, wenn es im ersten Schritt keinen Konsens gibt. Wir haben uns viele Gedanken darüber gemacht und werden dann evtl. nachjustieren.

Frank: Es war eine bewusste Entscheidung, uns genau in dieser Konstellation für diesen Posten zu bewerben. Wir kennen uns sehr gut, haben unterschiedliche Stärken und schätzen dies auch, weil wir uns sehr gut ergänzen. Wir vertrauen uns und wissen, was wir aneinander haben. Das ist eine gute Basis für gemeinsame Entscheidungen.

Herr Dr. Dietrich, was für Neuerungen gibt es derzeit in der Schlaganfall- und Intensivmedizin?

Dietrich: In den letzten Jahren sind einige neue Behandlungsmethoden dazugekommen. Vor allem wird die Behandlung sehr viel individueller. Inzwischen können wir Patient*innen mit immer schwereren Schlaganfällen bis zu 24 Stunden nach Auftreten der Symptome gut helfen. Dadurch wird die Behandlung aber auch sehr viel komplexer. Viele verschiedene Fachabteilungen sind dar- an beteiligt. In der Stroke Unit z.B. behandeln viele verschiedene Berufsgruppen die Patient*innen, und es wird immer interdisziplinärer werden, auch abteilungsübergreifend.

Herr Dr. Hubert, in welchem Rahmen bewegt sich TEMPiS aktuell?

Hubert: Das Telemedizin-Projekt ist vor rund 20 Jahren entstanden, um die Schlaganfallversorgung auf dem Land zu verbessern. Inzwischen erstreckt sich TEMPiS über etwa ein Drittel des Freistaats Bayern – ganz Niederbayern, die südliche Oberpfalz und das östliche Oberbayern, von München bis zur österreichischen und tschechischen Grenze und hoch bis zum Landkreis Cham / Schwandorf. Die Zahl der Behandlungen hat sich verdreifacht, und wir haben uns um ein Schwindelprojekt erweitert. Im Rahmen unserer Arbeit unterstützen wir vor allem den Struktur- und Wissensaufbau vor Ort und machen viele Schulungen sowie viel Qualitätsmanagement, etwa über Audit-Visiten. Wenn akute Schlaganfallpatient*innen reinkommen, kann uns jede Partner-Klinik direkt aus der Notaufnahme anrufen und per Video dazuschalten. Wir untersuchen die Patient*innen dann und geben eine Behandlungsempfehlung. Nur ein Bruchteil von ihnen muss verlegt werden, weil es eine spezialisierte Expertise braucht. Auch die Thrombektomie baut auf unserem Telenetzwerk auf, obwohl sie natürlich nicht rein telemedizinisch durchgeführt werden kann. Dazu fliegt unser „Flying Intervention Team“ mit den Neuroradiolog*innen um Prof. Dr. Anastasios Mpotsaris mit dem Hubschrauber dorthin und behandelt vor Ort.

Hat sich in der Telemedizin durch die Pandemie etwas geändert?

Hubert: Während der Pandemie wurde die Telemedizin als die Lösung schlechthin gehypt, aber wir hatten bis dahin eigentlich schon fast alles abgedeckt. Obwohl dieser Hype inzwischen etwas abgeebbt ist, sieht man die Telemedizin weiterhin als große Chance – wegen des Fachkräftemangels. Bei der Krankenhausstrukturreform ist noch nicht ganz klar, wo es hingeht. Dass die Telemedizin ausgebaut wird, ist auch von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sehr erwünscht.

Frau Dr. Frank, versorgen Sie in der Früh-Reha in erster Linie Patient*innen aus München oder auch überregional?

Frank: Momentan behandeln wir vor allem Patient*innen aus dem Konzern, weil wir mit 20 Betten im Vergleich zu den großen Rehakliniken nur eine kleine Abteilung sind. In der Früh-Reha arbeiten wir sehr eng mit den verschiedenen Intensivstationen zusammen und versorgen im Anschluss an die Akutversorgung schwerstkranke Patient*innen z.B. nach Schlaganfall, Hirnblutungen oder Meningitis, aber auch mit schweren internistischen Grunderkrankungen oder Polytraumata und einer neurologischen Problematik. Künftig wollen wir den Patient*innen auch mehr Angebote machen, die nicht automatisch eine Übernachtung im Krankenhaus beinhalten. Derzeit bauen wir z.B. gerade unsere Tagesklinik aus. Unseren niedergelassenen Kolleg*innen möchten wir anbieten, uns in besonders komplexen Behandlungssituationen um Rat zu fragen. Zum Beispiel wenn die Patient*innen eine komplexe Diagnostik oder eine Konferenz zwischen verschiedenen Fachabteilungen brauchen. So haben wir eine spezielle interdisziplinäre Wirbelsäulensprechstunde eingerichtet.

Nochmal zurück zum Thema kollegiale Führung. Würden Sie dieses Modell auch anderen empfehlen?

Frank: Ich bin fest davon überzeugt, dass dies das richtige Konzept für ganz viele Kliniken sein kann, denn es bietet viele Vorteile. Zum Beispiel haben wir alle drei Familie und können uns zu dritt viel besser vertreten. Natürlich gibt es auch ein paar Herausforderungen, aber für mich bietet es definitiv mehr Chancen als Risiken.

Hubert: Für mich hängt es davon ab, wie groß und wie spezialisiert der Fachbereich ist. Wichtig ist, Vereinbarungen zu treffen: Was gibt es für Gemeinsamkeiten, die wir auch gemeinsam entscheiden wollen?
Zum Beispiel kann der Kollege Dr. Dietrich mit dem Chefarzt der Kardiologie oder Rhythmologie konkrete Schnittstellen definieren und tut dies auch. Die fachübergreifende Zusammenarbeit passt sehr gut in das Konzept der MüK 20++. Ich möchte allen, die so etwas ähnliches machen möchten, Mut wünschen, neue Konzepte auszuprobieren, sie durchzudenken und zu schauen, ob das nicht auch für sie eine Möglichkeit ist.

Dietrich: Ich glaube, es braucht künftig viel mehr individuelle Lösungen. Jede Abteilung, jedes Fachgebiet, jede Klinik ist anders strukturiert. Deshalb kann das Modell „ein Chef- arzt für alles“ nicht immer richtig sein. Künftig wird es verschiedene, nebeneinander existierende Modelle geben, auch innerhalb eines Konzerns oder einer Klinik. Man muss einfach offener sein für neue Lösungen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 20 vom 21.09.2024