Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen
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Wie viele und welche Minderjährige leiden unter Zwangsstörungen?
Je nach Untersuchung sind es ca. zwei Prozent. Damit ist die Zwangsstörung extrem häufig. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Zahl der Erkrankten in der Coronakrise relativ stabil geblieben – anders als bei den Erwachsenen, bei denen etwa die Waschzwänge zugenommen haben. Es kann alle treffen, aber viele erkranken zwischen dem elften und vierzehnten oder um das zwanzigste Lebensjahr. Unter Kindern sind zunächst mehr Jungs betroffen. Wahrscheinlich erkranken sie aber nur etwas früher, denn bei Jugendlichen und im Erwachsenenalter ist das Verhältnis im Durchschnitt ausgeglichen. Leider dauert es oft, bis die Diagnose gestellt wird – bei Erwachsenen bis zu zehn, bei Kindern und Jugendlichen zwei bis drei Jahre. Das hängt viel mit Scham zusammen. Viele Minderjährige machen schlechte Erfahrungen und ernten Unverständnis, wenn sie etwa Freundinnen oder Freunden von ihren Zwängen erzählen.
Weiß man etwas über die Ursachen?
Wie viele seelische Erkrankungen sind auch Zwangserkrankungen multifaktoriell. Aus Familienuntersuchungen wissen wir, dass es eine klare genetische Veranlagung gibt. Hinzu kommt meist eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur: Betroffene machen sich oft viele Gedanken darüber, ob sie alles richtig und gut genug gemacht haben. Sie werden ungern bei Fehlern entdeckt. In einer unserer Untersuchungen haben wir festgestellt, dass sehr reinliche, ordentliche Menschen bis hin zu einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung häufig Eltern von Kindern mit Zwangsstörungen sind. Manchmal gibt es Auslöser wie Schwierigkeiten in der Schule oder im Freundeskreis, aber nicht immer. Einmal kam ein zwölfjähriger Junge zu uns, in dessen Klasse gerade der Fuchsbandwurm durchgenommen wurde. Als er am nächsten Tag nach dem Fußballspielen als Torwart feststellte, dass er sich aus Versehen in Hundekot geworfen hatte, glaubte er, schwer krank zu werden. Obwohl er sich zu Hause gut abduschte, wurde er das Gefühl nicht los, der Kot sei noch überall. So kam er in einen Waschzwang. Viele Jugendliche haben auch sexuelle Zwangsgedanken und befürchten z.B. pädophil zu sein oder sich an jemandem zu vergreifen. Der Zwang sucht sich oft Dinge, die für Menschen besonders schlimm wären. Junge Mütter haben zum Beispiel häufig den Zwangsgedanken, sie könnten ihr Kind umbringen, was sie natürlich nie tun würden.
Wann ist z.B. ausgeprägte Reinlichkeit eine Störung, und nicht nur gute Hygiene?
Zwänge schränken einen im Alltag sehr ein und belasten. Oft entsteht ein großer Leidensdruck – z.B. wenn die Hände vom vielen Waschen schon offen sind, aber man sie trotzdem nochmal waschen und desinfizieren muss. Viele Menschen müssen nach dem Verlassen ihrer Wohnung zurückgehen, um zu prüfen, ob der Herd wirklich ausgestellt ist. Das schränkt sie in der Regel nicht sehr ein, wenn sie es nur einmal tun. Wenn sie es aber dreißigmal machen müssen und deshalb immer zu spät zur Arbeit oder Schule kommen, sieht es anders aus. Viele Jugendliche, die mit schweren Zwängen hierher in die Tagesklinik kommen, gehen seit Monaten nicht mehr in die Schule, weil sie das gar nicht mehr schaffen.
Wie einfach oder schwer ist es, Zwangsstörungen von anderen Erkrankungen wie dem Tourette-Syndrom oder Autismus abzugrenzen?
Viele Menschen mit Tourette-Syndrom entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Zwangsstörung, weil ihre vokalen oder motorischen Tics in einem ähnlichen Gebiet des Gehirns geschaltet werden wie Zwangsstörungen. Mit einem Tic ist aber keine Kognition verbunden. Zwangspatient*innen denken: „Wenn ich mich nicht wasche, werde ich krank“ oder: „Ich muss den Satz solange schreiben, bis er perfekt ist“. Die Abgrenzung zu leichteren Autismusspektrumsstörungen ist schwerer. Davon Betroffene sind oft sehr zwanghaft. Wir prüfen dann, ob dies persönlichkeitsfremd ist – ob sie darunter leiden. Dies würde dann eher für einen Zwang sprechen. Sind es aber eher repetitive oder stereotype Verhaltensweisen, einhergehend mit einem unflexiblen Festhalten an gewohnten Routinen, spricht dies eher für eine autistische Symptomatik. Auch magersüchtige Mädchen sind beim Essen oft sehr zwanghaft. Sehr selten gibt es auch schwer abgrenzbare schizophrene Störungen im Kindes- und Jugendalter.
Was gibt es Neues in der neuen Behandlungsleitlinie?
Wir wissen schon sehr lange, was beim Zwang hilft, nämlich die kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement. Die neue Leitlinie gibt auf der Grundlage vieler Studien nochmal sehr eindeutig die Empfehlung zu dieser Form der Verhaltenstherapie und empfiehlt sie als Goldstandard. Leider wird sie in der Psychotherapie aber viel zu selten angeboten – bei Erwachsenen in nur etwa 30 bis 40 Prozent aller Fälle. Dabei ist das Ergebnis oft hoch befriedigend. Die Patient*innen merken: Ich bin dem Zwang nicht völlig ausgeliefert, sondern kann mich wehren, und oft macht es sogar Spaß. Neuere Untersuchungen zeigen: Je früher ich Betroffene behandle, desto besser ist die Prognose. Denn leider hat der Zwang eine Tendenz, zu chronifizieren und zu bleiben.
Sind Medikamente zur Behandlung nötig oder ratsam?
Auch hierbei hilft die Leitlinie: Bei einer leichten bis mittelschweren Zwangsstörung braucht es keine Medikation. Wir haben aber wirksame Medikamente, die für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen zugelassen sind, darunter Sertralin (ab dem 6. Lebensjahr) und Fluvoxamin (ab dem 8. Lebensjahr). Medikamente wirken allerdings lange nicht so gut wie die kognitive Psychotherapie. Bei sehr schwer betroffenen, womöglich zusätzlich depressiven, Patient*innen kann ein sehr früher Beginn mit der Medikation aber helfen, die teilweise sehr anstrengende Therapie durchzustehen. In der Leitlinie steht genau, wann welches Medikament in welcher Dosierung sinnvoll ist. Serotonin-Aufnahmehemmer wie Sertralin müssen wir beim Zwang oft sehr viel höher dosieren als bei einer Depression.
Für welche Patient*innen kommt die Behandlung in einer Tagesklinik in Frage?
Bei nicht so schwer betroffenen Kindern und Jugendlichen, die noch zur Schule gehen können, genügt oft eine ambulante Behandlung. Sobald man aber mehrere Termine pro Woche für eine Expositionstherapie braucht, ist das ambulant meistens schwer zu leisten. Manchmal braucht es auch eine vollstationäre Behandlung, denn bei Zwangsstörungen sind die Eltern oft extrem eingebunden. Sie müssen z.B. Türen aufhalten, Lösungsmittel kaufen, oder dürfen manche Zimmer nicht betreten, und das kann für Berufstätige im Alltag sehr anstrengend sein. Bei unserer teilstationären Behandlung kommen die Kinder und Jugendlichen morgens zu uns und werden hier auch beschult. Teilweise haben sie vormittags schon einige diagnostische Maßnahmen. Nachmittags gehen sie in die Therapie. Eine teilstationäre Behandlung ist natürlich schöner für Kinder und Jugendliche, weil sie dann nicht aus ihrem Umfeld herausgerissen werden, sondern abends und am Wochenende noch Freunde treffen und zu Hause sein können.
Welche zusätzlichen Therapien bieten Sie an?
Wir arbeiten immer multimodal, d.h. wir haben eine intensive Einzeltherapie, die wir mit vielen Expositionen in der Intensivphase steigern. Außerdem beteiligt sich auch unser Team aus Pflegekräften und Sozialpädagog*innen an den Expositionen. Denn laut neueren Studien ist es entscheidend, diese regelmäßig und häufig durchzuführen. Viele von Zwangsstörungen Betroffene haben komorbide Störungen wie Ängste. Daher bieten wir auch Gruppen zur sozialen Kompetenz, Angstbewältigung, Körperwahrnehmung, Kunst- und Sporttherapie an. Schon morgens setzen wir mit den Patient*innen Tagesziele und machen Achtsamkeitsübungen.
Wie lange geht die Behandlung?
In mittelschweren bis schweren Fällen behandeln wir zehn bis zwölf Wochen. Im letzten Drittel oder Viertel der Behandlung gehen die Kinder von uns aus wieder in ihre Heimatschulen, damit sie wieder in ein normales Belastungssystem kommen. Nach der Schule besprechen wir, wie es war, ob es Zwänge gab. Was nach der Corona-Pandemie leider sehr zugenommen hat, ist der Schulabsentismus. Wir haben einige schulängstliche, trennungsängstliche Kinder, die teilweise bis zu zwei Jahre lang nicht mehr in der Schule waren. Allerdings sind die meisten Kinder mit Zwangsstörungen sehr leidensfähig. Sie gehen möglichst lange in die Schule, auch wenn sie sich dabei extrem belasten und quälen.
Welche Rolle spielen Angehörige bei der Therapie?
Die Leitlinie ist da sehr eindeutig: Die Familie muss von Anfang an einbezogen werden. Wie schon beschrieben, sind die Eltern ja meistens sowieso massiv eingebunden. Wir besprechen das mit den Patient*innen und sagen zum Beispiel: „Ab nächster Woche wird die Mama Dir nicht mehr die Türen aufmachen oder jeden Tag eine neue Flasche Duschlotion kaufen“. Wir machen auch zu Hause Expositionsübungen mit den Jugendlichen, denn der Zwang ist häufig im häuslichen Umfeld am stärksten. Zusätzlich zu den Einzelelterngesprächen bieten wir alle 14 Tage eine Elterngruppe dazu an, wie sie z.B. mit Medien oder mit Krisen umgehen können.
Wie einfach oder schwer ist es, Patient*innen bei Ihnen unterzubringen?
Wir haben 40 Plätze für Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren. Derzeit können wir oft innerhalb von drei oder vier Wochen einen Platz anbieten. Kinder und Jugendliche mit Zwängen nehmen wir auch gern ein bisschen früher, weil das einer unserer Schwerpunkte ist. Kinder- und Jugendpsychiater*innen, Pädiater*innen und niedergelassene Psychotherapeut*innen können die Kinder über eine Einweisung hier vorstellen. Wir freuen uns, wenn wir von den Einweiser*innen noch einen Befundbericht bekommen. Vor der Behandlung führen wir stets noch ein Vorgespräch, damit sich die Jugendlichen entscheiden können, ob sie wirklich zu uns kommen möchten. Denn eine so anstrengende Behandlung macht gegen ihren Willen keinen Sinn. Nicht zu behandeln ist aber keine Option, denn der Zwang geht nicht von alleine weg.
Stephanie Hügler
MÄA Nr. 02/2024 vom 13.01.2024