Leitartikel

Interprofessionelle Delirprävention, keine Angst!

Es passiert zu oft: Ein alter Mensch ist im Krankenhaus und weiß nicht mehr, wo er ist. Nicht immer steckt eine diagnostizierbare Demenz dahinter – sehr häufig ist es „nur“ ein Delir. Doch auch das kann zu Pflegebedürftigkeit und Tod führen, wissen PD Dr. Thomas Saller und Denise Seidenspinner vom LMU Klinikum Großhadern – und engagieren sich für dessen Vermeidung.
Interprofessionelle Delirprävention, keine Angst!
Interprofessionelle Delirprävention, keine Angst!

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Herr Dr. Saller, was ist Delir und warum beschäftigen Sie sich damit?

 Saller: Bei Delir denken viele an einen tobenden Patienten, wie etwa beim Alkoholentzugsdelir. Tatsächlich tritt ein Delir im Krankenhaus aber häufig als hypoaktive Verlaufsform auf, die Patient*innen sind scheinbar ruhig. Das Delir ist im Wesentlichen eine Aufmerksamkeitsstörung, bei der die Patient*innen nicht mehr fokussieren können. Leider wird es zu häufig übersehen, sodass einige Patient*innen das Krankenhaus mit Delir verlassen und noch Wochen oder sogar Monate später daran leiden. Man weiß auch, dass delirante Patient*innen eine deutliche erhöhte Morbidität und Mortalität haben. Hier kommen wir als Anästhesiolog*innen ins Spiel, weil wir uns als Perioperativmediziner*innen verstehen. Wir wollen Patient*innen möglichst gut durch die OP begleiten. Und wir wissen: Nach einem Delir leidet die Kognition, und die Pflegebedürftigkeit nimmt zu. Viele können sich dann im Alltag nicht mehr selbst versorgen. Das macht das Delir so gefährlich.

Was sind die Ursachen für ein Delir, und wie kann man es erkennen?

Saller: Delir kann die Folge einer Entzündung, etwa eines Harnwegsinfekts, sein oder auch unabhängig davon auftreten, ausgelöst etwa durch Stress oder Angst. Die häufigsten Risikofaktoren im Alter sind operative Eingriffe unter Narkose. Im Idealfall dauert dieser Zustand nur kurze Zeit. Eine Aufmerksamkeitsstörung kann man im Gespräch erkennen, und es gibt Tests, z.B. von 20 rückwärts zählen oder die Monate rückwärts nennen lassen. Häufig kommt eine räumliche Orientierungsstörung hinzu, die aber von einer Demenz abgegrenzt werden muss. Genauso ist es mit der SchlafWach-Störung. Auch formale Denkstörungen mit Halluzinationen können auftreten und für eine vegetative Symptomatik verantwortlich sein. Wenn die Patient*innen z.B. eine Pflegefachperson nicht als solche erkennen, sondern denken, dass sie ihnen schaden will, kann dies auch sehr traumatisierend sein. Daher ist es wichtig, ein Delir möglichst zu vermeiden.

Betrifft Delir also nur alte Menschen?

Seidenspinner: Nein, vom Kleinkind bis zum Greis können alle Altersgruppen betroffen sein. Auch kleine Kinder erleben im Krankenhaus häufig Stress und Angst durch die fremde Umgebung, was ein Delir begünstigen kann. Man weiß aber aus Studien, dass Personen mit Vorbelastungen im kognitiven Bereich und Veränderungen im Gehirn ein erhöhtes Risiko haben – also etwa Demenzkranke genauso wie psychisch kranke Menschen oder solche nach einem Schlaganfall. Von den über 65-Jährigen, die in ein Krankenhaus kommen, haben etwa 40 Prozent eine kognitive Beeinträchtigung, auch wenn es nur eine leichte Gedächtnisstörung ist. Bei älteren Menschen, die z.B. im Pflegeheim gestürzt sind, kommen oft mehrere Risikofaktoren zusammen. Daher haben wir vor einiger Zeit, gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, das Programm gertrud ins Leben gerufen. Bei diesem Pilotprojekt versorgen wir rund 500 ältere, elektive Patient*innen auf vier Stationen des Muskuloskelettalen Universitätszentrums und der Herzchirurgie proaktiv zur Vermeidung von Komplikationen nach einer Operation.

Saller: Etwa ein Viertel der älteren Menschen haben schon bei der Aufnahme in ein Krankenhaus ein Delir. Eine besonders schlechte Prognose haben diejenigen, bei denen das Delir nicht erkannt wird. So können Wesensveränderungen bei älteren Menschen, gerade etwa im Pflegeheim, ein sehr häufiger Hinweis auf eine Infektion, etwa eine Pneumonie, sein.

Wie lässt sich ein Delir praktisch therapieren?

Saller: Dazu wurde in den letzten Jahrzehnten viel geforscht. Leider funktioniert eine medikamentöse Therapie nicht. Die Delirtherapie ist mit der Delirprävention identisch. Dazu zählen intensive Zuwendung zu den Betroffenen, Re-Orientierung und ein ganzes Maßnahmenbündel, das von der Frühmobilisation bis hin zur kognitiven Stimulation reicht. Seidenspinner: Bei vorher erhobenen und digital gespeicherten Risikofaktoren wie kognitive Beeinträchtigung oder Gebrechlichkeit wird unseren Pflegefachpersonen in der Pflegeplanung für jede Schicht ein Delir-Screening vorgeschlagen. Überschreitet der Screening-Score einen bestimmten Wert, wird dies den behandelnden Ärzt*innen gemeldet und im Programm für alle Berufsgruppen sichtbar hinterlegt. Gleichzeitig helfen wir den Betroffenen, sich zu orientieren – zum Tag, zur Jahreszeit, wo wir hier sind und was heute passiert. Auch Gespräche, Rätsel oder Vorlesen führen zu einer kognitiven Aktivierung. Ganz wichtig ist es, Ruhe zu vermitteln, damit die Patient*innen sich sicher fühlen und keine Angst haben. Hinzu kommen schlaffördernde Maßnahmen und Mobilisierung: Patient*innen, die aufrecht sitzen, nehmen die Umgebung besser wahr und können eher interagieren. Wir begleiten die Betroffenen auch zur Diagnostik im Haus.

Das klingt für mich sehr zeit- und kostenintensiv.

Saller: Das ist unsere größte Herausforderung. Bei gertrud entlasten wir unsere Mitarbeiter*innen durch zusätzliche Pflegefachpersonen und eine Praxisentwicklung hin zu delirsensitiver und individueller Pflege. Zusätzlich gewinnen wir Bundesfreiwillige, damit auch diese bei der Aktivierung der Patient*innen unterstützen können. Damit wir nach Auslaufen des Pilotprojekts zum Programm gertrud unsere Patient*innen weiter delirpräventiv versorgen können, haben wir einen Qualitätsvertrag mit der Barmer Ersatzkasse geschlossen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat die Vermeidung von Delir als eines von acht Qualitätszielen im Krankenhaus festgelegt.

Seidenspinner: Wir möchten künftig auch noch Pflegefachhelfer*innen und andere Berufsgruppen einbinden, etwa Betreuungskräfte, wie sie aus der Altenpflege bekannt sind, die zum Beispiel mittags im Aufenthaltsraum eine Betreuung anbieten können. Eine weitere Komponente beim Programm gertrud greift schon prästationär, bis ca. sechs Wochen vor dem Aufenthalt. Bevor jemand zum Beispiel eine neue Hüftprothese erhält, schätzt eine Pflegeexpertin in einem Gespräch die Risiken der künftigen Patient*innen ein und koordiniert dann in Zusammenarbeit mit einem multiprofessionellen Team und dem Hausarzt eine optimale Vorbereitung der Patient*innen auf den Eingriff. Die Pflegeexpertin klärt auch Angehörige und Patient*innen darüber auf, wie sie selbst dazu beitragen können, ein Delir zu vermeiden. Mit all diesen Maßnahmen soll auch der Belastung der Pflegefachpersonen durch die Reduktion von Delir begegnet werden.

Gibt es auch auf ärztlicher Seite eine besondere Vorbereitung?

Saller: Ja, mit einem Patient Blood Management können wir schon vorher z.B. eine Anämie abklären und behandeln. Denn eine Bluttransfusion ist auch ein Risikofaktor für Delir. Außerdem machen wir eine Arzneimittelanamnese, um möglicherweise delirfördernde, z.B. anticholinerge, Medikamente vorher abzusetzen. Bei ungünstigen Blutwerten oder z.B. mangelhafter Ernährung nimmt die Pflegeexpertin vorher mit dem Hausarzt oder der Hausärztin Kontakt auf, um diese Punkte vor dem Eingriff günstig zu beeinflussen. Indem wir die Betroffenen, die Hausärzt*innen, die Pflegedienste zu Hause, das Pflegeheim und die Angehörigen zusammenbringen, können wir in einem Delirteam besprechen, wie wir gemeinsam Delir verhindern können. Auch nach dem Krankenhausaufenthalt begleiten wir die Überleitung in das häusliche Umfeld und stehen als Ansprechpersonen zur Verfügung. Damit möchten wir Komplikationen und spätere Pflegebedürftigkeit verhindern. Wir evaluieren unser Projekt, um zu sehen, ob es so auch für andere Kliniken umsetzbar und finanzierbar ist.

Gibt es internationale Vorbilder?

Seidenspinner: Wir haben verschiedene internationale und nationale Ansätze und Erkenntnisse aus der Forschung zusammengeführt. In den USA gibt es das Hospital Elder Life Programm. Dabei steht vor allem der Einsatz von Freiwilligen (Volunteers) im Vordergrund. In Großbritannien gibt es das Programm POPS (Proactive care of Older People undergoing Surgery), bei dem sich ebenfalls ein interprofessionelles Delir-Team vor einer Operation zusammensetzt. Saller: In Deutschland ist das St. Franziskus-Hospital in Münster mit seiner langjährigen Delirinitiative sehr erfolgreich. Dort werden zum Beispiel zusätzliche Altenpfleger*innen in der Begleitung eingesetzt. Wie geht es weiter? Saller: Ab Juni werden wir die ersten niedergelassenen Ärzt*innen kontaktieren. Wir wissen natürlich, dass diese immer unter einem enormen Zeitdruck stehen, hoffen aber, dass wir mit unserem Angebot letztlich allen Arbeit ersparen. Denn wenn eine Hausärzt*in sich womöglich noch am Wochenende nach der Entlassung mit einem Arztbrief auseinandersetzen muss und keine*n Ansprechpartner*in ans Telefon bekommt, ist dies ja auch nicht optimal. Wir hoffen, dass wir mit diesem Konzept in der Überleitung möglichst wenig Reibungsverluste haben.

 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler