Pandemiefolgen bei Kindern und Jugendlichen, Pillen statt Psychotherapie?
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Herr Prof. Voderholzer, welche Erkrankungen haben seit der Pandemie besonders zugenommen und warum?
Essstörungen haben in Deutschland und ganz Europa erheblich zugenommen. Zum Beispiel gab es einen deutlichen Anstieg von Krankenhauseinweisungen wegen Magersucht. Gestörtes Essverhalten ist häufig eine Reaktion auf emotionale Belastungen und fehlende Tagesstruktur. Symptome von Essstörungen dienen oftmals der Emotionsregulation. Viele Mädchen mit Anorexia nervosa etwa berichten uns, dass ihnen der Verzicht auf Essen ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle gibt. Zugenommen haben bei Jugendlichen auch depressive Störungen – vermutlich aufgrund von Einsamkeit und Isolation infolge geringerer Kontakte. Die meisten konnten ja längere Zeit nicht zur Schule gehen, und viele Aktivitäten, wie z.B. Sportgruppen, sind ausgefallen. Wir wissen, dass soziale Isolation in besonderem Maße einen Risikofaktor für depressive Störungen darstellt – vor allem in der Zeit der einsetzenden Pubertät und Identitätsfindung. Die Möglichkeit, sich in sozialen Netzwerken zu treffen, ist nur teilweise ein Ersatz. Soziale Netzwerke, insbesondere ihre exzessive Nutzung, sind außerdem mit anderen Risiken verbunden wie z.B. Internet- oder Smartphonesucht.
Welche Patientengruppen waren und sind besonders betroffen und warum?
Bei Kindern und Jugendlichen gibt es große Unterschiede in der Resilienz, d.h. in der Widerstandsfähigkeit, mit Belastungen umzugehen. Besonders wichtig für Resilienz ist ein gutes stabiles soziales Umfeld, d. h. intakte familiäre Strukturen mit einer guten Beziehung zu Eltern und Geschwistern. Wer vorher schon belastet war oder an einer psychischen Störung litt, war während der Pandemie sehr viel häufiger betroffen. Allzu oft verschlechterten sich z.B. die Symptome von bestehenden Essstörungen. Bei vorher stabilen Patient*innen kam es während der Pandemie immer wieder zu Rückfällen.
Wie wurden die Kinder und Jugendlichen in der Pandemie behandelt?
Eine ambulante Psychotherapie bei Kinder- und Jugendlichen-Therapeut*innen ist bei vielen Erkrankungen sinnvoll. Leider haben sich aber während der Pandemie die Zugangsmöglichkeiten nochmals verschlechtert, besonders in den ländlichen, unterversorgten Gebieten. Die jungen Patient*innen mussten in dieser Zeit und müssen teilweise bis heute durchschnittlich sechs bis 12 Monate auf einen Therapieplatz warten, manche sogar noch viel länger. Besonders schwierig war es für Kinder und Jugendliche mit schweren psychischen Erkrankungen wie schweren Zwangsstörungen, Borderline-Störungen oder auch Anorexia nervosa. Zwar wurde teilweise vermehrt Videotherapie genutzt, aber deren Verfügbarkeit und auch die Anerkennung durch die Kassen sind insgesamt noch stark eingeschränkt. Auch die Nachfrage nach stationären Behandlungen bei uns war deutlich erhöht. Viele Klinken der Kinderund Jugendpsychiatrie und -psychotherapie hatten eine sehr hohe Zahl an Einweisungen und waren oft überfüllt. Bis heute ist der Bedarf an stationären Behandlungsplätzen hoch, und auch an der ambulanten Versorgungssituation hat sich nicht viel verändert. Wir hoffen, dass sich die Versorgung durch mehr Sitze für Psychotherapeut*innen und eine raschere Terminvergabe sowie durch den Einsatz digitaler Psychotherapiemöglichkeiten verbessern lässt.
Sind Medikamente ein passendes Mittel für psychische Störungen und Erkrankungen bei Kindern?
Aus meiner Sicht wurden psychisch kranke Kinder und Jugendliche insgesamt zu häufig medikamentös behandelt. Natürlich muss man hier sehr differenzieren. Bei ADHS beispielsweise ist die Evidenz für die Behandlung mit Methylphenidat sehr gut, und begleitet von psychosozialen Therapien sind hier Medikamente meist sinnvoll. Deutlich anders ist es aber bei Depressionen oder der durchaus schon vor dem 18. Lebensjahr diagnostizierbaren Borderline-Störungen im Jugendalter. Hier gibt es zu wenig, teilweise sogar gar keine wissenschaftlichen Belege für die Wirksamkeit von Antidepressiva oder anderen Psychopharmaka. Ich persönlich finde es prekär, wenn bei Depressionen, Borderline-Störungen oder Trauma mangels Verfügbarkeit von Psychotherapie Medikamente gegeben werden. In Einzelfällen kann das unumgänglich sein, z. B. bei besonderer Schwere der Erkrankung. Auch im Hinblick auf langfristige Wirksamkeit wäre es aber in den meisten Fällen viel besser, zunächst die Möglichkeiten intensiver Psychotherapie auszuschöpfen. Auch wenn mir hierzu konkrete Zahlen fehlen: In Deutschland und vielen anderen Ländern werden mittlerweile Antidepressiva in allen Altersklassen häufiger verordnet als früher. Viele Jugendliche sind betroffen. Wir haben einige kennengelernt, die ohne eine vorherige, indizierte Psychotherapie zu einer stationären Behandlung eingewiesen und auf Antidepressiva oder auch Antipsychotika eingestellt wurden.
Welche Medikamente sind in welchen Fällen angezeigt?
Wenn es für die Erkrankungen wirksame Psychotherapie gibt, sollte Psychopharmakotherapie auf keinen Fall als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden. Dies ist außer bei den vorher genannten Erkrankungen etwa auch bei Angststörungen oder Zwangsstörungen der Fall. Für Depression bei Jugendlichen gibt es eigentlich nur ein Medikament mit ausreichendem Wirksamkeitsnachweis, nämlich Fluoxetin. Und auch dafür sind die antidepressiven Effekte im Vergleich zum Plazebo eher gering ausgeprägt. Ein Zusatznutzen z.B. zu einer kognitiven Verhaltenstherapie konnte in einer neueren Studie nicht gezeigt werden. Wer bereits im Jugendalter jahrelang Antidepressiva nimmt, hat zudem als junge*r Erwachsene*r zu häufig große Schwierigkeiten, das Medikament wieder abzusetzen. Neben kurzfristigen Absetzeffekten kann es auch über Monate zu Reboundeffekten kommen, vermutlich durch Gegenregulation infolge der Behandlung. DieFolge ist oft eine Verschlechterung der Symptome in den Monaten danach. Natürlich gibt es auch Erkrankungen wie Psychosen, bei denen Antipsychotika indiziert sind. Die Wirksamkeit von Methylphenidat und anderen Medikamenten bei ADHS habe ich ja bereits erwähnt.
Was müsste passieren, damit Kinder und Jugendliche künftig adäquat behandelt werden?
Die ambulante Versorgungssituation muss dringend durch einen schnelleren Zugang zu ambulanten Psychotherapien verbessert werden. Psychotherapien sollten in intensiverer und spezifischer Form durchgeführt werden, z. B. mit Expositionsbehandlung bei Angst- und Zwangsstörungen oder spezifischer Therapie bei Essstörungen. Auch die Zugangsmöglichkeiten zu Videotherapien müssen verbessert werden – durch mehr Angebote und weniger Restriktionen seitens der Kostenträger. Denn Videotherapie erleichtert nicht nur den Zugang zu Therapie, gerade in unterversorgten Regionen. Sie macht es auch leichter, das häusliche Umfeld mit einzubeziehen. Die Zahl der stationären Behandlungsplätze scheint ebenfalls weiterhin nicht auszureichen. Zusätzlich bräuchten wir noch mehr psychosoziale Hilfsangebote wie Beratungsstellen oder Wohneinrichtungen für schwer psychisch Erkrankte. Um psychische Erkrankungen früher und besser zu erkennen, benötigen die Betroffenen mehr gute Aufklärung und Information. Viele Patientinnen und Patienten mit Anorexia nervosa beispielsweise kommen erst nach mehrjährigem Verlauf in Behandlung. Dies kann fatal sein, weil die Therapie umso schwieriger und die Aussicht auf vollständige Heilung umso geringer wird, je länger die Erkrankung besteht.
Wie können Kinder vor psychischen Störungen und Erkrankungen geschützt werden?
Der wichtigste Faktor für Resilienz ist ein stabiles familiäres Umfeld. Kinder und Jugendliche benötigen die liebevolle Zuwendung und Verlässlichkeit ihrer wichtigsten Bezugspersonen. Entscheidend sind auch regelmäßige körperliche Bewegung, ein gesunder Schlafrhythmus und ein angemessener Umgang mit sozialen Medien. Leider haben heute viele Jugendliche zu wenig körperliche Bewegung und verbringen zu viel Zeit am PC, Smartphone oder in sozialen Medien. Dadurch sind sie nicht nur der Gefahr von Cybermobbing oder schädlichen Einflüssen von Influencern ausgesetzt. Sie werden auch oft mit Trends und Strömungen in der Gesellschaft konfrontiert, die viele Jugendliche überfordern.
Was können Eltern und Lehrer*innen tun?
Lehrerinnen und Lehrer können zur Früherkennung psychischer Störungen beitragen. Dazu sollten sie aufmerksam sein, Hinweise für eine psychische Erkrankung ernst nehmen und mit Schulpsycholog*innen gut zusammenarbeiten. Eltern sollten im Hinblick auf ihre eigene Gesundheit und besonders ihre eigene psychische Gesundheit immer ein gutes Vorbild sein, denn negative Verhaltensweisen werden oft von den Eltern erlernt.
Was können und sollten Niedergelassene tun?
Natürlich war die Vielzahl der Anfragen während der Pandemie keine einfache Situation für die Kolleginnen und Kollegen. Die oft sehr langen Wartezeiten sind aber ein riesiges Problem in der Versorgung, weil dadurch das Risiko der Chronifizierung steigt. Niedergelassene Kolleginnen und Kollegen könnten ein Kontingent für Notfall-Sprechstunden einrichten, um rasch zu klären, welche Behandlung benötigt wird. Viele unserer Patientinnen und Patienten und auch deren Angehörige haben uns von frustrierenden Erfahrungen bei der Suche nach einem Termin oder einem Therapieplatz berichtet.
Was sind Ihre Forderungen an die Politik?
Die Politik muss endlich ernst nehmen, dass psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ein gewachsenes Problem darstellen. Die Versorgung muss verbessert werden. Psychische Erkrankungen erfordern oft eine kontinuierliche und lang andauernde Therapie. Es ist sehr positiv, dass eine interministerielle Arbeitsgruppe erst vor Kurzem der Bundesregierung die Ergebnisse zu den Auswirkungen von Corona auf Kinder und Jugendliche Bundesregierung vorstellen konnte. Sollte es wieder eine Pandemie geben, muss die Politik die speziellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen auf jeden Fall besser im Blick haben.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄÄ-Nr. 11 vom 20.05.2023