Leitartikel

Krankenhauskrise, Klinik ohne Bett?

Für viele ist es längst überfällig: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will die Vergütung in den Kliniken verändern. Doch nach Meinung einiger Expert*innen kann dies nur ein erster Schritt auf dem Weg zu grundlegenden Reformen sein. Das findet auch der Münchner Gesundheitsökonom Prof. Dr. Andreas Beivers – im Interview mit den MÄA.
Krankenhauskrise, Klinik ohne Bett?
Krankenhauskrise, Klinik ohne Bett?

Foto: shutterstock

 

Herr Prof. Beivers, viele Kliniken haben finanzielle Probleme. Wie kann man dem begegnen?

Hierzu muss ich etwas weiter ausholen. Viele unserer heutigen Krankenhäuser wurden vor 30 oder 40 Jahren gebaut – für die Medizin, die Mobilität und die Bedarfe der damaligen Zeit. Damals wurde aber z.B. ein entzündeter Blinddarm noch offen, und nicht endoskopisch operiert. Die betroffenen Patient*innen lagen zehn Tage im Krankenhaus – und nicht nur zwei wie heute oftmals. Medizin und Medizintechnik, die Bevölkerung, ihre Ansprüche und Bedarfe haben sich verändert. Gleichzeitig haben wir deutschlandweit einen Investitionsstau im deutschen Krankenhaussektor. Wir müssen dringend die duale Krankenhausförderung von 1972 an die heutigen Bedarfe, besonders aber an die Bedarfe von in 20 oder 30 Jahren, anpassen. Denn künftig wird ein zweifacher demographischer und zusätzlich noch ein geodemographischer Wandel, auf uns zukommen: Die Menschen werden immer älter, und es gibt weniger junge Fachkräfte. Zudem leben viele an anderen Orten als früher.

Die Probleme sind ja schon lange bekannt. Warum muss jetzt dringend gehandelt werden?

Eine Strukturanpassung über die Fallpauschalen ist nicht gelungen. Zusätzlich wirkte die Pandemie wie ein Brennglas und hat viele Probleme noch verstärkt. Die Freihaltepauschalen für Coronakranke während der Pandemie beispielsweise haben viel Geld gekostet und sind nicht immer dort angekommen, wo sie am nötigsten waren. Das Hauptproblem ist aber: Die elektiven Patient*innen kommen aktuell nicht mehr so zurück in die Krankenhäuser wie vor der Pandemie. Viele Leistungen werden schon heute vermehrt ambulant angeboten. Die Versorgung hat sich insgesamt verändert. Einerseits sind in den Kliniken die Betten häufig voll. Andererseits ist das Leistungsniveau insgesamt trotzdem niedriger als vor der Pandemie, sodass die Einnahmen sinken. Das führt zu einer dramatischen Tragfähigkeitsgefährdung für die Kliniken. Hinzu kommen dann noch die Energiekrise sowie gestiegene Personal- und Sachkosten.

Gleichzeitig gibt es auch einen Personalmangel bei Pflegekräften und Ärzt*innen.

Die Personalknappheit wird so schnell nicht abzustellen sein. Auch wenn alle heute neu geborenen Kinder Pflegekräfte würden, wären diese erst in 20 Jahren auf dem Arbeitsmarkt. Es ist auch keine Lösung, den Ländern in Ost- und Südeuropa die Pflegekräfte wegzunehmen, denn diese haben ebenfalls einen demographischen Wandel und brauchen die Menschen selbst. Besonders knapp ist das Personal bekanntermaßen in der Altenpflege. Das wird uns noch viele Probleme bereiten. Das Thema Ärztemangel kann ich persönlich fast nicht mehr hören. Das Problem ist zu einem großen Teil hausgemacht – durch fehlgeleitete Bildungspolitik. Wir haben keinen Mangel an jungen Menschen, die sich für die Medizin interessieren, sondern nur zu wenig Studienplätze. Natürlich arbeiten viele Ärzt*innen nur in Teilzeit und nur wenige wollen als Hausärzt*innen auf dem Land arbeiten. Und ja, in den nächsten Jahren werden viele in Rente gehen. Es bräuchte also dringend mehr Studienplätze und mehr Ausbildung in Haus- und Facharztpraxen, damit die Medizinstudierenden dorthin finden. Die Frage aktuell aber ist: Wie wollen und können wir die Patient*innen in nächster Zeit weiterhin auf einem hohen Niveau versorgen? Meiner Meinung nach geht das nur dadurch, dass wir alle, die nicht unbedingt stationär behandelt werden müssen, aus dem Krankenhaus heraushalten. Wir müssen dringend Kapazitäten bündeln und ambulantisieren, wo es geht.

Aber ist das nicht nur eine Verlagerung des Problems von den Kliniken in die Praxen?

Sie haben Recht. Man muss aufpassen, dass es kein Verschiebebahnhof wird. Und Strukturreformen werden das Problem auch nicht gänzlich lösen. Wenn man allerdings gar nichts macht, wird es noch schlimmer werden. Heute werden viele Patient*innen allein deshalb vollstationär operiert, weil man dies besser abrechnen kann. Dieses Potential müssen wir unbedingt heben. Die Idee, dass man wenige größere Krankenhäuser schafft, die sich spezialisieren, und dass man Intensivkapazitäten bündelt, ist nicht neu. Wir müssen aber mehr darüber nachdenken, welche Investitionen wir dafür brauchen, damit sich etwas ändern kann. Um mehr Patient*innen ambulant zu behandeln, brauchen wir z.B. Fahrdienste, Recall-Systeme und eine ambulante Nachsorge – sonst wird die Ambulantisierung zum Nullsummenspiel. Wer weiß denn, ob der 80-Jährige, den ich ambulant behandle, überhaupt jemanden zu Hause hat, der sich um ihn kümmern kann? Aktuell wird das Entlassmanagement in den Kliniken primär durch Sozialarbeiter*innen über die DRGs finanziert. Beim EBM gibt es kein Geld für das Entlassmanagement der ambulanten Fälle. Auch das muss aber mitgedacht werden.

Genügt denn eine Ambulantisierung?

Der ambulante Bereich alleine wird natürlich nicht alles abfangen können. Daher brauchen wir völlig neue Versorgungspfade, eine neue Infrastruktur und womöglich sogar ganz neue Berufsfelder. Ich sage immer: Es gibt mehr Menschen mit Führerschein als mit Approbation. Es muss in den Kommunen einen Pool an Fahrdiensten geben mit Menschen, die dort als Fahrer*innen angestellt sind, damit diese z.B. den genannten 80-Jährigen nach einem Eingriff oder einer Behandlung wieder nach Hause oder in die Pflegeeinrichtung fahren können. Das kostet natürlich. Auch die Möglichkeiten der Digitalisierung gilt es, besser zu nutzen. Es braucht dringend digitale Innovationen, damit Patient*innen nach Operationen unproblematisch einen Videocall mit dem Krankenhausarzt führen können, wenn es ihnen zu Hause plötzlich schlecht geht. Auch dafür braucht es Investitionen. Wenn jemand zum Beispiel zu Hause keinen Laptop hat, sollte man ihm oder ihr unkompliziert abends ein Tablet für die digitale Krankenhaussprechstunde mitgeben können – damit abends nicht noch der KV-Bereitschaftsdienst beansprucht wird. Wir müssen jetzt erst einmal Geld in die Hand nehmen, um neue Versorgungsstrukturen aufzubauen!

Das war auch ein Ergebnis der Studie “Umwandeln statt Schließen: Wie Krankenhäuser an den Bedarf der Versorgung vor Ort angepasst werden können”, die die Stiftung Münch im Sommer 2022 veröffentlicht hat. An unserer Studie hat auch Professor Boris Augurzky mitgewirkt. Er ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Münch und Mitglied der„Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, die aktuell Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach berät. Einige unserer Ideen werden jetzt von der „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ aufgegriffen.

In dieser Studie wurden drei mögliche Klinikmodelle entworfen.

Ja, die ambulante Klinik, die sogenannte „Überwachungsklinik“ und die Fachklinik. Die ambulante Klinik kann als zentrale Anlaufstelle einen Großteil der Basisversorgung sichern. Überwachungskliniken bieten Überwachungsbetten für komplexere Fälle. Und Fachkliniken für ausgewählte Krankheitsbilder fokussieren sich auf Spezialgebiete, ohne die Grundversorgung absichern zu müssen. Diese Modelle lassen sich auch verschieden kombinieren. Neu ist das alles allerdings nicht. Es gibt die verschiedensten Möglichkeiten zur Umwandlung von Kliniken. Jede Region muss für ihre eigenen Bedarfe mit ihrer eigenen Bevölkerung eigene Lösungen finden. Das eigentlich Innovative an unseren Ideen ist, dass diese neuen Formen, die eher ambulant und stationsersetzend sind, trotzdem krankenhausplanerisch ein Krankenhaus bleiben sollten. Sie müssten weiterhin Ansprüche auf Fördermittel haben und investitionskostenfinanziert bleiben. Meiner persönlichen Meinung nach brauchen wir für diese kleinen Kliniken auch eine Vorhaltekostenfinanzierung. Wie die Regierungskommission schlagen wir zudem neue Vergütungssysteme vor. Allein auf der Basis des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) können viele ambulante Zentren ja nicht überleben.

Gibt es weitere Ergebnisse der Studie?

Wir müssen komplexe Versorgungsstrukturen bündeln. Die Versorgung vor Ort können wir aber nicht einfach abbauen. Für die niedrigschwellige Versorgung und Nachsorge brauchen wir Menschen. Dies müssen aber nicht unbedingt Ärzt*innen sein, bei denen wir ja aktuell das Problem haben, dass viele bald in Rente gehen. Auch Paramedics, z.B. Physician Assistants oder qualifizierte Pflegefachkräfte, könnten dies übernehmen. Dadurch werten wir gleichzeitig den Pflegeberuf auf, machen ihn attraktiver. Dies können und müssen wir mit digitalen Innovationen und mit Prozessinnovationen kombinieren. Denn der Personalmangel wird ja leider trotzdem bleiben. Bei den digitalen Innovationen können wir viel von den skandinavischen Ländern lernen. Dort gibt es sehr viele Online-Sprechstunden, die zum Beispiel bei der Einschätzung von Notfällen helfen können, damit die Notfallambulanzen nicht überlaufen. Die Menschen in Skandinavien arbeiten aber auch sehr an der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung – z.B. durch Schulungsmaßnahmen und Online-Portale.

Viele unserer Leser*innen sind wahrscheinlich skeptisch, ärztliche Aufgaben in pflegerische Hände zu übergeben. Was würden Sie ihnen entgegnen?

Das Grundproblem ist doch, dass wir eine Unter-, Über- und Fehlversorgung haben. In manchen Regionen gibt es sehr viele Ärzt*innen, in anderen zu wenige. Welcher Arzt würde denn seine Praxis freiwillig von der Münchner Innenstadt in den Bayerischen Wald verlegen? Während es mehr Ärzt*innen in den Städten gibt als auf dem Land, ist es bei den Pflegekräften in der Regel anders herum, weil diese sich die Mieten oder gar Eigentum in der Stadt sowieso nicht leisten können. Indem wir mehr Pflegekräfte in umgewandelten Kliniken auf dem Land beschäftigen, könnten wir dieses Problem lösen. Auch für die Ärztinnen und Ärzte, die schon auf dem Land wohnen, könnten solche umgewandelte Kliniken attraktiv sein: Eine eigene Niederlassung ist ja derzeit für viele weniger attraktiv, weil die Vereinbarkeit von Beruf und Familie dort schwierig ist. Ich spreche aus eigener Erfahrung – meine Frau ist selbst niedergelassene Ärztin. Es wäre doch wesentlich besser, bestehende Krankenhäuser umzuwandeln als noch mehr Praxis-MVZs von Private-Equity-Gesellschaften aufkaufen zu lassen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 3/2023 vom 28.01.2023